Achim Stößer

Chronopsie

(Auszug)

Am Anfang war das Nichts.
Und Gott sprach: Es werde Licht!
Da war immer noch nichts,
aber alle konnten es sehen.
Anonym

Mit einem leisen Schrei zuckte Michaela zusammen. Aus dem langen Kratzer auf ihrem Unterarm, eigentlich nur ein wenig zur Seite geschobener Haut, quollen kleine Blutströpfchen.

Es war nicht das erste Mal, daß sie sich an der Armlehne des Stuhls, einer scharfkantigen Metallschiene, von der die Kunststoffverkleidung längst abgefallen war, verletzt hatte. Die wenigen Mittel, die sie noch bekamen, mußten sie in die Hardware stecken, und es war nicht ganz einfach, die Anträge so zu formulieren, daß eine Gleitkommakarte als Bürobedarf anerkannt wurde.

Sie leckte über die brennende Haut, wischte sie trocken und schob die bisher zu den Ellbogen aufgekrempelten Ärmel ihres Overalls bis zu den Handgelenken. Dann setzte sie sich wieder vor dem Pult zurecht.

Der fensterlose Raum, in künstliches Licht getaucht, war nur spärlich geschmückt. Die Tür hinter Michaela wurde auf der einen Seite von einem Regal, auf der anderen von einem Schrank gesäumt. Eine Wand bedeckte eine große alte Schreibtafel, auf der sich Formeln und schematische Zeichnungen ineinander wanden; Feynman-Diagramme, mit rotem Filzstift geschrieben, an denen grüne Buchstaben und Symbole klebten, blaue Quantenfeldschemata und schwarze Gleichungen bildeten einen chaotischen Gobelin, der im Lauf der Zeit zu einem kaum mehr zu entziffernden Informationsbrei zusammengewachsen war. Die gegenüberliegende Wand war übersät mit Notizen, Ausdrucken, Zetteln, oft vergilbt und unleserlich. Dazwischen hing ein Titelblatt der Chronophysics News, in dem ein Artikel von ihr erschienen war, und dessen Titelbild, das sie selbst produziert hatte, einen Mann zeigte, um dessen Beine eine Katze strich: den Physiker Erwin Schrödinger. Das Blatt hatte sich durch die Luftfeuchtigkeit gewellt. Weitere großformatige, gerahmte Fotos hingen hier und an der vierten Wand, an der Michaelas Pult stand: Philipp Reis beim Telefonieren, Leonardo da Vinci, wie er mit Hilfe eines Spiegels ein Selbstporträt (i) malt-- die Mona Lisa --, und viele andere, alle sorgfältig beschriftet mit dem Namen der dargestellten Personen, Ort, Datum und Uhrzeit.

Auf eine Bildserie war Michaela besonders stolz. Die Fotografien zeigten allesamt von Menschen ausgerottete Tierarten, wenn nicht das letzte, so doch ein Exemplar aus dem Jahr der Ausrottung: ein Beutelwolf, 1945, von dem seit 1938 in Tasmanien nur noch Spuren gefunden worden waren, ein Moa auf Neuseeland, 1912, ein freilebendes Quagga, 1878, und das 1883 im Zoo gestorbene, eine Stellersche Seekuh, 1769, ein Auerochse, 1627, ein Burchellzebra, 1910, ein Blaubock, 1800, und einige andere, sogar ein Madagaskarstraußenpaar, das sie im Jahr 998 fotografiert hatte. Es war angesichts der enormen Rechenzeiten, die die Chronopsie verschlang, nicht leicht gewesen, diese Aufnahmen zu machen.

Das Pendel der Uhr, die die Wandtafel des Pults anzeigte, schwang gleichmäßig hin und her. Kurz vor zehn. Michaela berührte mit dem Zeigefinger das Telefonsymbol auf der Tischfläche und sagte: "Jacques"; ein altertümliches Telefon erschien neben der Uhr, dessen Hörer unter den angeblichen Schwingungen der schrillen Klingel auf und ab hüpfte. Ein Lied erklang: One moment in time, bis sie das Lautsprechersymbol antippte. Dann wurde das Bild durch das eines Mannes ersetzt.

"Oh, Micha", sagte er, "ich war gerade auf dem Sprung, meine Bahn geht in ein paar Minuten."

"Ich halte dich nicht lang auf, ich will dir nur nochmal viel Glück wünschen." Sie schüttelte mißbilligend den Kopf. "Du trägst ja wieder einen dieser scheußlichen Pullover. Wann bist du zurück?"

Er lächelte. "Ich mag nun mal schwarz-gelbe Zebramuster. Wenn ich den Zug in Aachen heute abend noch erwische: so gegen vier. Hast du inzwischen etwas von Alicia gehört?"

"Nein, sie ist wie vom Erdboden verschluckt."

Jacques schüttelte den Kopf. "Seit sie für diese Artikelserie über den Mißbrauch von Kindern durch Priester recherchiert ... sie hat schon immer zu viele Fragen gestellt. Ich mache mir langsam wirklich Sorgen."

"Wem sagst du das? Wenn sie nicht bald wieder auftaucht, werde ich nach ihr suchen, ich pfeif' auf die Vorschrift." Sie wies auf das Pult.

"Was soll das heißen? Du willst das Paläoskop benutzen? Aber ich dachte, die letzten siebzig Jahre seien nicht zugänglich, aus Datenschutzgründen."

"Sicher, sie sind versiegelt. Das Siegel wird monatlich ausgewechselt, und ein Rechner würde ein Jahr brauchen, um es zu deprogrammieren. Die Versiegelung wurde von Bürokraten festgeschrieben, die nicht die leiseste Ahnung haben -- als ob es keine unlösbaren Siegel gäbe. Um dieses zu knacken, muß ich nur ein paar Dutzend der Rechner, die hier herumstehen, und am Wochenende oder nachts (i) ohnehin idlen, gleichzeitig darauf ansetzen. Notfalls ändere ich den Quellcode und umgehe den Schrott mechanisch. Ein Kinderspiel."

"Solange sie dich nicht erwischen."

"Ja. Wenn die Geheimdienste es benutzen, um eine Sekunde in die Vergangenheit -- aber an jeden beliebigen Ort -- zu sehen, habe ich keine Gewissensbisse, es in diesem Fall auch zu tun. Außerdem habe ich es schon einmal gemacht: das Bild des 1996 ausgerotteten Zackenhirschs (i) stammt aus eben diesem Jahr, nicht, wie ich angegeben habe, von vor 71 Jahren."

"Du liebe Zeit. Tu nichts Unüberlegtes. Vielleicht meldet Alicia sich ja in den nächsten Tagen. -- Ich muß mich jetzt wirklich beeilen."

"Also, alles Gute für deinen Vortrag."

Er warf ihr eine Kußhand zu.

Je t'aime, formten ihre Lippen. Jacques' Bild verschwand, das Telefon erschien für einen Augenblick mit sti"liegendem Hörer, dann löste es sich ebenfalls auf.

Michaela seufzte und fuhr mit ihrer Arbeit fort. Nun war sie fast dreißig, und während in anderen Teilen der EU und den USA Leute in ihrem Alter gewöhnlich Professorenstellen innehatten, konnte sie dank der entsetzlich langen Ausbildungszeiten in Deutschland lediglich ein Diplom vorweisen. Schlimmer noch, statt an ihrer Dissertation zu schreiben, mußte sie hier eine Arbeit erledigen, für die sie in keiner Weise ausgebildet war: sie stellte ein Skript für die Vorlesung, die ihr Doktorvater hielt (wenn er nicht gerade verhindert war und ihr dies überließ) zusammen. "Wir betrachten die skalare Feldtheorie, definiert durch das Lagrange-Kontinuum", diktierte sie, und der Text erschien in dem auf dem Tisch abgebildeten Entwurf. "Doppelpunkt", fügte sie ärgerlich hinzu, und das Zeichen ersetzte den Punkt.

Ein virtuelles Buch lag neben dem Skript. Sie blätterte darin, indem sie auf den Seitenrand drückte, bis sie die Stelle, die sie gesucht hatte, fand. Dann tippte sie ein Scherensymbol an, umriß mit dem Fingernagel eine Formel und schob den Ausschnitt an die entsprechende Stelle des Skripts:

Sie stutzte, dann korrigierte sie den offensichtlichen Fehler. Sie fragte sich, durch wieviele wissenschaftliche Abhandlungen (i) er sich wohl ziehen mochte, denn kaum einer würde sich die Mühe machen, die Formel zu prüfen. Solche Kleinigkeiten waren nicht weiter tragisch, aber es gab durchaus gewichtigere Irrtümer in Formeln, die -- das wußte sie aus schmerzlicher Erfahrung -- zumindest das Verständnis erschwerten. Schnaubend schob sie die Texte beiseite. Ein Blick bestätigte ihr, daß der Compiler, den sie zuvor gestartet hatte, noch lief, es blieb ihr also nichts übrig, als zu warten.

Sie gab eine Anweisung ein, um herauszufinden, ob vielleicht jemand da war, mit dem sie sich eine Weile unterhalten konnte, doch wie an den meisten Samstagen war das Institut wüst und leer, sie war allein.

Sie schnippte gegen das Piktogramm eines Flügels auf dem Pult. Eine Klaviatur erschien, und neben der Uhr ein Metronom. Morning has broken like the first morning, blackbird has spoken like the first bird ... weiteren Fingerschnippen zum Verstummen. Zögernd drückte sie ein paar Tasten, ließ dann ihre Finger immer rascher und fließender über die elfenbein- und ebenholzfarbenen Flächen gleiten.

Nach einer Weile betrachtete sie die Notenblätter, in denen auf dem Pult über der Klaviatur ihr Spiel protokolliert worden war, verschob hier und da eine Note, vertauschte einige Takte, strich und ergänzte. Es ging auf den Mittag zu.

Schließlich ließ sie das Ergebnis ablaufen. Unzufrieden unterbrach sie, spielte ein paar Takte ein zweites Mal an, startete die Wiedergabe erneut.

Die Tür flog auf, sie drehte sich um. Zwei Männer drängten in den Raum. "Oh, ich habe gar kein Klopfen gehört", sagte sie. Ohne hinzusehen klatschte sie gegen das Flügel-Piktogramm, und das Piano verstummte.

Einer der beiden war vielleicht Mitte zwanzig, sie kannte ihn vom Sehen. Er war ihr aufgefallen, weil er grundsätzlich, selbst jetzt, im tiefsten Winter, Sandalen trug, aus denen seine nackten Zehen hervorlugten. Sein langes, schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden. "Ich", stand in Großbuchstaben auf seinem Latz. Seine Sicherheitskarte wies ihn als Caspar David Oehmichen aus. Ein Student einer anderen Fakultät, eines Instituts, das aber im gleichen Gebäude untergebracht war -- die Fakultäten waren nicht nach Bau-, sondern nach Stockwerken getrennt, über mehrere Häuser verteilt. Niemand wußte genau, welchem Zweck das diente: historische Gründe, hieß es.

Der andere war etwa vierzig, trug einen konservativen dunklen Anzug und Weste, ein weißes gestärktes Hemd, weinrote Krawatte. Die Krawattennadel wies ihn als Gotteswächter aus, als religiösen Fundamentalisten, und am Revers trug er verschiedene Abzeichen, ein Kruzifix, einen stilisierten Fisch und andere, die Michaela nicht kannte, am Handgelenk ein Panzerarmband, wie sie es schon mehrmals gesehen hatte: es enthielt seinen operativ entfernten Appendix, denn er wollte beim Jüngsten Gericht nicht ohne Wurmfortsatz dastehen. In der Hand hielt er -- Michaela erstarrte. In der Hand hielt er eine Schußwaffe, auf Caspar gerichtet. Jetzt begann die Mündung, zwischen ihm und ihr zu schwanken.

"Keinen Widerstand", zischte der fromme Mann.

"Nur nicht aufregen", sagte Caspar fast lässig. An Michaela gewandt fuhr er fort: "Daß der gute Herr Schlicksupp einen Strahler auf uns richtet, hat nichts zu bedeuten. Schließlich ist er ein gottesfürchtiger Christ. Jedenfalls hat er mich noch nicht erschossen, richtig?"

"Was ...?" stieß Michaela hervor.

"Du möchtest wissen, was das zu bedeuten hat, nicht wahr?" half Caspar aus.

Sie nickte. "Hören Sie, -- Schlicksupp? --, wir sind keine Wahrsager, die Ihnen voraussagen können, wann der Heiland wiederkehrt. Wir beschäftigen uns ausschließlich mit der Vergangenheit." Im letzten Jahr hatte im MIT ein Verrückter ein paar Physiker mit Dynamit bedroht und gefordert, die Pferderennergebnisse der kommenden Woche zu erfahren.

"Lassen Sie diese Unverschämtheiten." Er zog mit der freien Hand eine Zeitschrift aus der Innentasche seines Jacketts und warf sie ihr hin. Die Chronophysics News vom Oktober, mit dem Schrödinger-Titelbild. "Es ist die Vergangenheit, die mich interessiert, die Zukunft liegt in den Händen des lebendigen Gottes. Michaela Orsini, das sind Sie, nicht wahr?"

"Ja, das bin ich."

"Ich sollte vielleicht besser nicht fragen", bemerkte Caspar vorsichtig. "Aber liegt dann etwa die Vergangenheit in den Händen des toten Gottes?" Die Mündung stand vor seiner Nasenspitze. "Okay, das war eine dumme Frage, Sie haben mich überzeugt."

"Ich glaube, hier liegt ein Mißverständnis vor", warf Michaela ein und sah die Waffe wieder auf sich gerichtet. "Warten Sie, lassen Sie mich erklären. Es ist unmöglich, die Vergangenheit zu verändern, schlagen Sie sich das aus dem Kopf. Wir beobachten sie nur. Der (i) 26D-Raum enthält wie ein Hologramm ein Abbild dessen, was wir als vierdimensionale Vergangenheit wahrnehmen. Jedes Bruchstück eines zersplitterten Hologramms speichert das gesamte Bild, deshalb genügt es, einen Teilbereich des Raums zu untersuchen. Wenn Sie auf einem Foto die "Viererbande" oder Alexander Dubcek (i) wegretuschieren (i), ändert das vielleicht die Geschichtsbücher, aber nicht die Wirklichkeit. Deshalb können wir auch nicht in die Zukunft sehen, da der Film sozusagen erst noch belichtet werden muß." Das hatte mit der physikalische Realität soviel zu tun wie eine mit Vakuum gefüllte Glühbirne, aber es mußte genügen. Insbesondere, da sie in den Lauf einer Waffe starrte.

"Das ist es, was ich will. Ich will die Vergangenheit sehen."

"Ist das nicht schön?" fragte Caspar. "Endlich einer, den eure Arbeit kümmert. Wie ich höre, sind die Historiker nicht sehr interessiert an dem Verfahren, sie betreiben lieber Quellenstudium als sich von Fakten verwirren zu lassen. Allerdings hätte Herr Schlicksupp höflicherweise bis zum Tag der offenen Tür warten können, nicht?"

"Halten Sie endlich den Mund! Sie sind hier für die Übersetzung, sonst nichts."

"Was wollen Sie eigentlich?" fragte Michaela. "Sie kommen hier herein, bedrohen mich mit einer Waffe -- wie sind Sie überhaupt an der Wache vorbeigekommen ohne Sicherheitsausweis?"

"Ich will, daß Sie tun, was ich Ihnen sage, das will ich. Nicht alle Menschen sind mit dem Teufel im Bund, der Wachmann ist einer von uns."

"Also um das Ganze etwas abzukürzen", sagte Caspar mit ungeduldiger Stimme, "Herr Schlicksupp hier möchte uns Ungläubigen endlich beweisen, daß Gott, wie es aus der Heiligen Schrift eindeutig hervorgeht, die Welt vor sechs Jahrtausenden (i) erschaffen hat. Du sollst mit deinem Zeitbetrachter ein Guckloch aufmachen, damit wir das hautnah miterleben, auf Video aufzeichnen und der staunenden Öffentlichkeit präsentieren können, die dann sofort in Massen dem rechten Glauben zuströmen und ihr sündhaftes Treiben beenden wird, denn gegen so ein Video vom ersten Schöpfungstag ist das Grabtuch von Turin schließlich ein Klacks, insbesondere, wenn wir bedenken, daß das Gewebe aus dem 14. Jahrhundert stammt. Wie dem auch sei, hier komme ich ins Spiel. Ich studiere Linguistik, mit Nebenfach Informatik, und arbeite zur Zeit an einem Unterstützungssystem für o-o Bibel-Urschrift-Exegese. -- Ein Glück, daß ich heute früh den Latz gewechselt habe, auf dem, den ich gestern trug, stand: Creationists haven't evolved for more than 6000 years -- oder war es Apes evolved from Creationists?" Er zog einen Speicherzylinder, einen gläsernen, in allen Regenbogenfarben schimmernden zigarrengroßen Stab, aus der Umhängetasche. "Auf diesem Stick befindet sich ein Übersetzungsprogramm. Da Gott sich bei der Erschaffung der Welt, um dem Nichts mitzuteilen, daß Licht zu werden habe, des ..." Er räusperte sich. "Da Gott damals also Hebräisch gesprochen hat ... nicht? Nun ja."

"So ist es", stimmte Schlicksupp zu. "Also fangen Sie an."

"Augenblick. Das ist ein Scherz, oder? Sie wollen doch nicht --"

Ein Schuß löste sich, fuhr in das Bild, das Einsteins Frau Mileva Maric (i) zeigte, wie sie seitenweise Gleichungen niederschrieb. Glas splitterte, der Kunststoff des Bildträgers wand sich unter der Hitze des Strahls wie ein abgetrennter Eidechsenschwanz.

"Mit anderen Worten", sagte Caspar, "deine Scherz-Hypothese solltest du vorläufig zurückstellen."

"Schon gut, ich habe verstanden. Schön, hören Sie, da gibt es ein Problem. Bisher kommen wir nicht weiter als eineinhalb Jahrtausende zurück. Die Zeit davor ist durch Rechenungenauigkeiten völlig verrauscht."

"Ha!" Schlicksupp fuchtelte mit der Waffe in Richtung der Zeitschrift. "Ich habe alles darüber gelesen, mir können Sie nichts vormachen."

"Das ist ein -- ein theoretischer Artikel. Bei der praktischen Umsetzung gibt es noch Schwierigkeiten. Solche Veröffentlichungen können oft mißverständlich formuliert sein." Besonders, wenn der Geldhahn austrocknet und neue Mittel locker gemacht werden müssen, aber das sagte sie nicht.

"Lügen Sie nicht! Ich weiß, daß erst kürzlich am MIT die Ermordung Julius Cäsars beobachtet wurde."

"In Ohio, ja, dort sind sie weiter als wir. Hören Sie, warum gehen Sie nicht nach Massachusetts und versuchen dort Ihr Glück?"

Der Lautsprecher sang: Yesterday all my troubles seemed so far away ... Michaela schaltete ihn aus.

"Wie wahr", stellte Caspar fest.

"Was hat das zu bedeuten?" Schlicksupps Hand umklammerte verkrampft den Griff der Waffe.

"Nichts weiter. Eine zufällig aus einer Reihe ausgewählte Melodie, die das erfolgreiche Ende einer Aufgabe anzeigt. Das heißt ... ich habe unser Verfahren modifiziert, das Programm ist jetzt compiliert -- fertiggestellt. Ich hatte gehofft, bis zum Bau der Cheopspyramide im 26. Jahrhundert -- ohne die Unterstützung Außerirdischer -- vorzustoßen, oder gar bis zu den ersten Höhlenmalereien zwölftausendfünfhundert vor ... wie dem auch sei, vielleicht können wir tatsächlich den von Ihnen gewünschten Zeitpunkt einstellen."

Caspar wirkte erschrocken. "Ist das dein Ernst?"

"Aber ja. Gib schon her!" Sie zeigte auf den Stick, und er gab ihn ihr. "Ich weiß natürlich nicht, ob es funktionieren wird, das Chronopsie-Programm ist noch nicht getestet, aber wir können es versuchen." Sie führte den Stick ein. Ein obszönes Stöhnen drang aus dem Lautsprecher. Bisher hatte sie das nicht weiter gestört, aber jetzt, mit der Waffe eines Fundamentalisten im Nacken, lief es ihr eiskalt über den Rücken -- ein Schweißtropfen rann kitzelnd über ihre Haut und ließ sie frösteln.

"Was soll ...?" fuhr Schlicksupp sie an.

"Ich stelle es ab." Sie tippte ein wenig auf dem Bild der Schreibmaschinentastatur, dann drückte sie das Lautsprechersymbol.

Caspar atmete scharf ein.

Michaela stand auf und ging zur Tür.

"Hiergeblieben! Wo wollen Sie hin?"

"Ins Hardware-Labor, ich muß ein paar Justierungen vornehmen. Sie können hier warten, es dauert nicht lang."

"Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?"

Caspar legte den Zeigefinger an die Lippen. "Sag's nicht!"

Schlicksupp trat zur Tür und spähte mit erhobener Waffe hinaus. "Die Luft ist rein", flüsterte er. "Beeilung!"

"Nicht doch, wir zögern es hinaus, damit wir es etwas länger genießen können."

"Genug!" Schlicksupp hielt Caspar wieder die Waffe vor die Nase. "Ich habe genug von Ihren Bemerkungen. Noch ein Ton ... den Übersetzer habe ich, ich brauche Sie nicht mehr." Die Mündung berührte Caspars gläsernen Ohrring und machte dabei ein unangenehmes Geräusch.

"Gutes Argument. Heißt das, ich kann gehen? -- Schon in Ordnung, ich bleibe natürlich, aus Interesse versteht sich, dies ist schließlich ein historisch bedeutsamer Moment, und zukünftige Generationen werden ihn in ihrem Heimchronoskop beobachten."

Automatisch widersprach Michaela: "Wir bezeichnen es nicht als Chronoskop -- ein Chronoskop ist ein Gerät zur Aufzeichnung kleiner Zeitspannen -- sondern als Paläoskop."

"Oh, Chronopsie sagt ihr nur, um das ganze etwas verständlicher zu gestalten?"

Sie ging voran, gefolgt von Caspar, und, die Waffe im Anschlag, Schlicksupp. Sie öffnete eine Tür, auf der stand: "Hardware-Labor -- Geräte in diesem Raum nicht reinigen". Dahinter roch es muffig, wie Lianen wucherte ein laokoonsches Kabelgewirr, Gebläse summten. Michaela schob ein paar der künstlichen Schlingpflanzen beiseite, um die Tür vollständig öffnen zu können. Der Blick wurde frei auf eine Besenkammer, angefüllt mit sich in Stahlregalen auftürmenden, verstaubten Apparaturen, deren Gehäuse größtenteils geöffnet war, erhellt nur von unregelmäßig blinkenden Lichtern und wie giftig schimmernden Monitoren, über die nervös Linien zuckten. Michaela drehte an ein paar Knöpfen, legte einige Schalter um, vertauschte hier und da einen Kabelanschluß, dann begab sich die Prozession zurück in ihr Büro.

"Nun", fragte Michaela, nachdem sie wieder am Pult Platz genommen hatte. "Wann also hat Gott die Welt erschaffen?"

Schlicksupp saß auf dem zweiten Stuhl, den er vor die Tür geschoben hatte. "Vor 6046 Jahren(i)."

Michaela tippte etwas in eine auf der Pultfläche eingeblendete Zehnerblocktastatur. "Und das Datum?"

Entgeistert starrte Schlicksupp sie an. "Welches Datum?"

"An welchem Tag, um welche Uhrzeit hat er angefangen?"

"Es wäre doch unsinnig", ergänzte Caspar, "wenn wir erst wochenlang darauf warten müßten, bis er Himmel und Erde erschafft, oder aber zu spät kämen, und ihn nur noch ein paar Apfelbäumchen pflanzen sähen, nicht?"

"Wir beginnen mit dem 1. Januar", sagte Schlicksupp energisch. "Notfalls suchen wir so lange weiter, bis wir etwas finden."

"1. Januar, 0:00 Uhr", bestätigte Michaela mit leichtem Kopfschütteln. Auf dem Pult erschien eine Sanduhr; der Sand rieselte scheinbar von unten nach oben, ohne jedoch an einer Stelle mehr oder weniger zu werden.

Caspar verkniff es sich, darauf hinzuweisen, daß der Januar erst seit relativ kurzer Zeit der Jahresbeginn war.

Schlicksupps Blick wanderte unsicher zwischen der Sanduhr und Michaela hin und her. "Und?" fragte er schließlich. "Warum ist nichts zu sehen?"

Sie sah ihn erstaunt an. "Das ist etwas anderes, als auf einem Taschenrechner zwei Zahlen zu addieren. Die Berechnungen sind äußerst komplex; die Kosinustransformation fällt kaum ins Gewicht, aber die Entropiekodierung ist teuer -- zeitaufwendig --, und wenn wir auch statt der Wavelets nur Fouriertransformationen verwenden, so benötigt --"

"Versuchen Sie nicht, mich mit Ihrem Fachchinesisch hinters Licht zu führen. Ihr seid doch alle gleich. Also, wie lange?"

"Ich sagte bereits, daß das Programm nicht getestet ist. Für die Taufe Chlodwigs brauchten wir etwa vierzig Minuten pro ... wenn es gut läuft, vier oder fünf Stunden."

"Ist das ein Trick?"

"Aber nein. Ich dachte, Sie hätten die Zeitkalküle in meinem Artikel gelesen?"

Er antwortete nicht. Stattdessen betrachtete er die Fotos an den Wänden. Sein Blick blieb an einer Schwangeren hängen. "'Die Päpstin Johanna, 1001'", las er gepreßt, riß die Waffe hoch und feuerte rasch mehrere Schüsse auf das Bild ab. "Glauben Sie, ich wüßte nicht, was Sie vorhaben? Ich weiß sehr wohl, daß die Antichristen in Ohio das Geburtsdatum unseres Erlösers festzustellen vorgaben und dabei angeblich nichts und niemanden fanden."

"Was eine große Überraschung war, wo doch auch außerhalb der Bibeln von diesem Jesus berichtet wurde, in einem einzigen Werk zwar nur, aber daß diese Passagen in Josephus' Texten Jahrzehnte nach seinem Tod gefälscht -- Verzeihung, ergänzt -- worden seien -- warum auch sollten Christen so etwas tun? --, ist natürlich eine atheistische Verschwörung. Ich weiß es, der Geist von Elvis hat es mir selbst verraten."

"Ha!" machte Schlicksupp. "Sie können sagen, was Sie wollen, ich höre es gar nicht."

"Das dachte ich mir." Er saß, an die Wand gelehnt, auf dem Tisch und wackelte mit den nackten, haarigen Zehen. "Also warten wir jetzt." Er griff in die Tasche.

"Was soll das?" herrschte Schlicksupp ihn an.

"Ich trage immer ein paar Handgranaten bei mir, eine davon wollte ich jetzt benutzen." Er brachte eine Banane zum Vorschein und fragte Michaela: "Teilen?" Sie nickte, er brach die Banane in der Mitte durch, warf ihr die Hälfte zu und drückte dann gegen das spitze Ende seiner Hälfte, so daß das Fruchtfleisch sich aus der Bruchfläche schob. "Weshalb sehen Sie mich so böse an, Herr Schlicksupp? Weil Sie nichts abbekommen? Oder weil es nicht die Methode ist, die sich gehört, eine Banane zu essen? Vermutlich stören Sie auch Michaelas Hosen, ihre kurzgeschnittenen Haare und meine langen?"

"Allerdings. Wie jemand so herumlaufen kann ... das wird sich bald ändern."

"Ja, mir wurde früher schon auch wegen meiner Haare eine gewisse Ähnlichkeit mit Jesus nachgesagt."

Schlicksupps Hand, die die Waffe hielt, zuckte.

Im Gesprächston fuhr Caspar fort: "Ich habe kürzlich eine Gallup-Umfrage (i) gelesen, nach der 1976 -- legt mich nicht darauf fest, ich habe ein fürchterliches Zahlengedächtnis -- 17% aller Amerikaner mit College-Abschluß, 42% der High-School- und 60% der Grade-School-Abgänger sagten, die Bibel sei das tatsächliche Wort Gottes und Wort für Wort wahr." Sein Mundwinkel zuckte. "Insgesamt 38%. In den folgenden Jahren gab es einen leichten Einbruch, aber im letzten halben Jahrhundert hat sich die Zahl fast verdoppelt. Können so viele Millionen Menschen sich irren? Sicher nicht. 13% waren dem Wahn verfallen, die Bibel sei ein altes Buch mit Fabeln, Legenden usw., diese Zahl ist konstant geblieben, während der Rest sie für das inspirierte Wort Gottes, aber nicht unbedingt wörtlich zu nehmen, hielt. Nun ja."

Schlicksupp sprang auf, Caspar schrak zusammen, aber der Gottesfürchtige beachtete ihn nicht, sondern fuhr Michaela, drohend die Waffe schwingend, an: "Was ist das? Dieser Gestank? Eine Falle? Giftgas?"

"Ich atme die Luft hier auch, oder nicht?" antwortete sie. "Nein, das ist Voß-Brunnert. Professor Voß-Brunnert, er fährt ein Auto mit Verbrennungsmotor, das er mit dem alten Fritierfett aus der Mensa betreibt. Und mit Vorliebe parkt er so, daß der Auspuff genau in die Luftansaugöffnung der Klimaanlage bläst, das ist alles."

"Verstehe. Keine Tricks! -- Wie lange dauert es noch?"

"Ich schätze, vier bis fünf Stunden, das sagte ich doch."

Ein echtes Gespräch kam nicht in Gang, und Caspar verlor die Lust, Alleinunterhalter und dabei mit seinem Leben zu spielen. Nur einmal, als Schlicksupp sich die erste Zigarette ansteckte, bat Michaela ihn, nicht zu rauchen, da dies den Geräten schadete, doch er ignorierte ihre Bitte, und so war nun nach stundenlangem Warten der Auspuffgestank durch Tabakrauch fast vollständig ersetzt.

Ein Geräusch von der Decke ließ Schlicksupp auffahren. "Was war das?"

[...]


Diese Erzählung wurde 1994 und 1997 veröffentlicht.