Achim Stößer

Die Erdbeerdiebin

(Auszug)

Die Regenwand raste vorwärts, jagte die Straße entlang, peitschte flechtenbewachsene Dachziegel und staubbedeckten Asphalt. Schwere Wassertropfen prasselte auf die Dächer der radlosen Autowracks, die an den Bordsteinkanten kauerten. Als wären die Wolken mittendurchgeschnitten, kam der Regen auf Jasmina zu, klatschte auf ihren Kopf, ihre Schultern, ihre Brust, ihren Rücken, ihre Beine, durchnäßte ihre Haare und Kleider von einem Augenblick zum anderen. Hier und da huschten Menschen vorbei, suchten Schutz in Torwegen, Resten überdachter Hinterhöfe, Kellerräumen, und schon fielen die ersten Graupeln. Jasmina lief auf die Überbleibsel eines zahnsteingelben Mercedes zu. Rost fraß am Lack der Türunterseiten; die Tür ließ sich nicht öffnen. Schloßen, groß wie Kirschkerne, beschossen Jasminas Beine, als sie sich durch die leere Fensterhöhle der hinteren Wagentür wand.

Obwohl es Mitte März war, hatte es lange keine Wolken und erst recht keinen Niederschlag mehr gegeben. Geschneit hatte es seit Jahren nicht mehr; Sturm und Hagel waren die einzige Abwechslung von dumpfer, erstickender Hitze.

Die Hagelkörner waren inzwischen taubeneigroß. Jasmina lehnte sich gegen den nach vorn geklappten Fahrersitz, möglichst weit entfernt vom Heckscheibenrahmen, durch den Eiskugeln fielen, die auf dem Rücksitz hüpften oder klackend mit anderen Eisbrocken zusammenstießen. Wie auf eine Blechtrommel hämmerte der Hagel aufs Dach. Obwohl die Luft warm war, klebten Jasminas Haare und ihr Hemd klamm an Schultern und Rücken. Sie wrang ihre Haare aus, dann riß sie die oberen Hemdknöpfe auf und zog den Kragen vor und zurück, um ein wärmeisolierendes Luftpolster zwischen Stoff und Haut einzuschließen. An ihrem Hals baumelte im Rhythmus der Bewegung an einer Kette, eingefaßt in billiges Holzimitat, das Bildnis der Heiligen Maria Magdalena.

Draußen schmolzen die Hagelkörner augenblicklich, sobald sie mit der heißen Makadamdecke in Berührung kamen. An den Sohlen von Jasminas bloßen Füßen klebte der in eine Schlammkruste verwandelte Straßenstaub. Der Schlamm und ihre Haut begannen zu trocknen; als sie über ihre Arme strich, rieselten epidermale Hornschuppen wie Kunststoffflöckchen in einem Schneegestöberbriefbeschwerer auf ihre Shorts.

Betonbrocken, aus denen rostige Stahlstäbe ragten, lagen draußen, Überreste der Berliner Mauer vielleicht, oder aber nur Trümmer eines Gebäudes. Die Berliner Mauer war eine Sehenswürdigkeit wie die Chinesische, wenn auch als Sparversion, vom Weltraum aus nicht so leicht zu erkennen. Ein großer Teil, rund dreißig Kilometer lang, war nachgebildet oder wiederaufgebaut, ein lächerlich winziges Stück, verglichen mit dem über hundert Mal so langen, bis zu zehn Meter hohen und acht Meter breiten Schutzwall, der zweitausenddreihundert Jahre zuvor während der Chou-Dynastie zur Abwehr von Überraschungsangriffen der Reiternomaden der Steppe und zum Schutz vor chinesischen Nachbarstaaten errichtet worden und der seit der Ming-Dynastie, seit dem 15. Jahrhundert also, nahezu unverändert geblieben war. Berlin war ein riesiger Leib, ein Leichnam, zum großen Teil verwest, nur hier und da noch ein zuckendes Augenlid, eine sinnentleert funktionierende Milz.

Im Süden, wie ein erdbeerrot elektrolytlackierter Finger, das alles überragende Connex, dessen neo-barocker Stil dem neuen Schloß auf dem ehemaligen Marx-Engels-Platz und den anderen umgebenden Gebäuden angepaßt war; und nicht nur sein Äußeres war barock wie Marmorattrappen aus bemaltem Gips: Kinos und Simulacra, Bars mit Designerdrogen und Alkohol fanden sich darin -- die unmittelbar sinnlich erlebte und zugleich idealisierte Wirklichkeit, Illusionen, vorgetäuschte Wahrnehmung aus zweiter Hand.

Langsam rollte mit rasselnden Ketten ein Lastpanzer vorbei. Noch immer hingen an den Litfaßsäulen und Plakatwänden Fetzen monatealter Wahlplakate. Einige der Weißlichthologramme waren überklebt mit Spruchbändern aus einfarbigem, schwarzem Papier mit weißen Druckbuchstaben, zwei Zeilen, gezeichnet mit einem eingekreisten A, die üblichen, nutzlosen Parolen: Wenn wir wirklich die Wahl hätten, gäbe es ein Bundesgesetz dagegen. Für etwas anderes als für Parteien und Politiker zu werben, lohnte sich in dieser Gegend nicht, denn die wenigen Leute, die noch nicht aus den abbruchreifen Häusern vertrieben worden waren, besaßen nichts als die Kleider auf ihrer dermatösen Haut und ihre Wählerstimme. Die Gebäude hier waren verfallen, Spekulanten ließen große Stadtgebiete bewußt verkommen, während sich in anderen Vierteln die Menschen auf die Zehen und wohl auch auf die Finger traten. Jasmina waren die Plakate gleichgültig. Erst in vier Jahren, mit zwanzig, würde sie wählen dürfen. Falls sie noch so lange lebte.

Beim Anblick des signalfarbenen Turms kam Jasmina eine Idee. Nicht weit von hier, in der Jungfernheide, befanden sich Erdbeerfelder ... und morgen würde Ferdinand zehn Jahre alt.

Das Trommeln auf dem Wagendach war weicher geworden, der Hagel leichtem Nieseln gewichen. Jasmina stieg aus dem Wrack, patschte durch schlammige Pfützen, stieg über Exkremente, leere, plattgedrückte Wasserdosen, Trümmer eingestürzter Häuser, schmutzige Plastiktüten, umrundete einen halb skelettierten Pukokadaver mit räudigem, schwarzem Fell, lief die Bernauer Straße entlang, Richtung Wedding.

***

Am Rand der Müllhalde Spandau stand das Haus, in dem Jasmina wohnte. Oder es stand vielmehr auf der Halde, dem alten Teil, dem Gebiet, das über das Ufer hinausragte, dort, wo die Menschen, die Bewohner der Halde, aus Müll ihre Heimat aufgebaut, wo sie dem nagenden Meer wieder Quadratmeter um Quadratmeter abgetrotzt hatten. Das Berliner Binnenmeer, das dicht an der Stadt lag, führte wie ein einhundertdreißig Kilometer langer Kratzer von Neubrandenburg bis zu einem Punkt westlich von Potsdam. An der breitesten Stelle maß es fünfundzwanzig Kilometer und war bis zu zwanzig Meter tief. Achtzehn Milliarden Kubikmeter Erde waren verdampft, die geschmolzenen und gesinterten Reste bildeten ein wasserundurchlässiges Bassin. Ein Untersuchungsausschuß hatte allerdings festgestellt, daß nicht ein technischer Fehler, sondern menschliches Versagen die Ursache gewesen war.

Fünf Tangfischerboote dümpelten an einem Kai; gewöhnlich liefen sie nachts aus, denn tagsüber war es für die Ernte zu heiß. Ein paar hundert Meter weiter draußen, unter Wasser, lagen die Überbleibsel von Falkensee. Ein, zwei Dutzend Kinder waren zu sehen, die über die Müllberge stapften, darin herumstocherten, sich nach dem einen oder anderen Brocken bückten und ihn in eine Tasche oder den Mund steckten. Verwertbare Gegenstände, Obst- und Gemüsereste und eßbare Verpackungen wurden aufgelesen; übrig blieben neuzeitliche Kjökkenmöddinger (i), die statt Austernschalen und Tierknochen Konservendosen und ausrangierte Elektronikteile enthielten. In sicherer Entfernung hüpfte gurrend, scharrend und pickend, wie um sie nachzuahmen, eine Schar stummelflügliger Tauben durch den Abfall. Tauben, Zwergmöwen und Ratten waren eher Nahrungskonkurrenten als jagbares Wild für die Bewohner der Müllkippe, zumindest für die menschlichen. Ganz in der Nähe keckerte einer jener einzelgängerischen, sonst eher scheuen Puschas, Kreuzung aus Pudel und Goldschakal. Das Tier mit füchsischem Gesichtsausdruck war jung, sein Fell schwarz und glatt, wies kaum die unregelmäßigen, andersfarbigen Flecken älterer Puschas auf. Gerade hatte es einen Rattenkönig ausgegraben, warf die hilflosen Nager mit unentwirrbar verwickelten und verklebten Schwänzen mit Schnauze und Pfoten herum, ehe es sich anschickte, sie aufzufressen. Ein süßlicher Geruch lag über der Halde, so allgegenwärtig, daß die Menschen, die hier lebten, ihn nicht mehr wahrnahmen; auch wenn sie den Müll verließen, haftete er noch lange in ihren Kleidern und Haaren, schien sich selbst in der Lunge eingenistet zu haben.

Das Haus -- die Hütte -- bestand aus Abfall. Die abblätternden Totenkopfsymbole an den Wänden ließen ihren Ursprung erkennen: aufgeschnittene und flachgewalzte Fässer aus Blech. Ihr Inhalt war schon lange je nach Konsistenz im Boden versickert oder mit anderem Abfall zusammengebacken und zu Wegen zwischen den Müllbergen festgetreten. Auf einer Seite der Hütte waren die Tonnen wabenartig aufgeschichtet, nach innen geöffnet und mit Zwischenböden versehen, als Schrank oder Regalwand. Die Zwischenräume waren mit geschmolzenem Plastikabfall ausgefugt. Billige Hologramme von HiPop-Stars und einigen Heiligen hingen an den anderen Innenwände. Das größte Bild zeigte einen schafsäugigen Jesus, eine Hand erhoben, die andere am strahlengespickten Herzmuskel in der offenen Brust. Das Herz zuckte rhythmisch, schien zu pochen. Es war durchbohrt, und eine Flamme züngelte heraus.

Weiße Polymerfolie bedeckte das flache Dach, um die brütende Tageshitze abzuhalten. Es war leicht geneigt, um das Wasser der seltenen Niederschläge, gefiltert durch eine Sandschicht, die radioaktiven Staub zurückhalten sollte, in ein Wasserfaß oder über ein Rohrgittersystem zu leiten, das gleichzeitig als Hagelschutz diente. So wurden die kümmerlichen Tomaten- und Tomoffelpflanzen und die beiden bonsaihaft verkrüppelten, kaum meterhohen Apfelbäume hinter dem Haus bewässert.

Hier, im Schatten, saß Jasminas Bruder, Ferdinand. Das Binnenmeer war lange vor seiner Geburt entstanden; so war es hier für ihn selbstverständlich, wie es eiszeitliche Endmoränen irgendwo in Norddeutschland gewesen wären, Bimsstein in Pompeji, graugrüne, gischtumspülte Betonklötze in San Francisco. Vor ihm auf dem Tisch aus einer über zwei Tonnen gelegten Aminoplastbohle standen mehrere säuberlich beschriftete Glasschalen aus den abgeschnittenen Böden zerbrochener Geschirrspülmittelpfandflaschen. NaClO3 (i) stand auf einer; eine andere enthielt gewöhnlichen Zucker. Das Natriumchlorat stammte aus den Resten verschiedener Unkrautvernichtungsmittel; mit einem Löffel füllte Ferdinand davon in eine dritte Schale, in der sich bereits Zucker befand. Roten Phosphor hätte er dem Zucker vorgezogen, aber selbst Zucker war schon schwer genug zu bekommen. Wer benutzte heute noch Streichhölzer? Und wenn sie dann auf dem Müll landeten, waren die Köpfe natürlich abgebrannt. So kratzte er jetzt von sechs einzelnen Zündhölzern die Köpfe ab, zerstieß sie in einem Mörser und gab das Pulver zum Zucker. Daß die Zündholzköpfe keinen Phosphor enthielten, wußte er nicht. Die Stiele der Streichhölzer, die aus quadratischen Stückchen wachspapierähnlichen Materials zusammengerollt waren, bog er hin und her, um das Wachs zu lösen, und faltete sie auseinander. Sie würden ausgezeichnete Hüllen für Knallerbsen abgeben.

Die Zwillinge, Violetta und Vérénice, saßen in der Hütte auf einem Kunststoffcontainer, den sie nachts als Bett benutzten, und sahen fern. Der Fernsehschirm hing an der gegenüberliegenden Wand; das Bild war rotstichig, das Seitenverhältnis nicht verstellbar, und der Apparat war trotz einer Diagonalen von nur knapp dreißig Zoll fast fünf Zoll tief, aber immerhin noch voll funktionsfähig -- mit das Beste, was sich im Sperrmüll finden ließ.

Im spärlichen Schatten eines der Apfelbäume lag in einer Wiege aus einer längshalbierten Tonne röchelnd Jasminas Baby; schleimige Blasen platzten mit jedem Atemzug in dem Loch in seinem Hals, durch das es atmete. Es war ein Mädchen, drei Monate alt und ohne Namen; ohnehin ein Wunder, daß es noch am Leben war, sinnlos, sich einen Namen auszudenken. Von Zeit zu Zeit verscheuchte Ferdinand die in metallischem Blau schimmernden Fliegen mit orangeroten Augen, die um Atemloch, Mund und Nase des Babys und die schwärende Wunde an seiner Schläfe krochen, indem er auf den Rand der Wiege trat, die zwei-, dreimal hin- und herschaukelte, während der Fliegenschwarm aufstob, verstört kreiste und beharrlich wieder landete.

Auf dem Bildschirm fuhren zehn oder zwölf meist schwarze Autos eine Straße entlang; ein beigefarbenes hielt mit quietschenden Bremsen vor einem Treppenaufgang. Der Beifahrer sprang heraus und rief dem Fahrer zu: »Laß den Motor laufen, ich bin in einer viertel Stunde zurück.« Dann lief er die Treppe hinauf. Es war ein alter Film, vermutlich sogar ohne Farbe aufgenommen.

Ferdinand warf durch die Türöffnung einen Blick auf den Schirm und fuhr auf, als er das wappenförmige Warner-Logo in der Ecke entdeckte. Vorsichtig setzte er die Schale, die er in der Hand hielt, ab, hastete ins Haus, öffnete eine Klappe am Apparat und dejustierte den Empfänger. Knirschend drehte sich die Parabolantenne auf dem Dach in eine andere Richtung. Das Bild wechselte, ein neues Signet erschien, ein Doppel-B oder eine stilistierte 33 -- Ferdinand kannte das Zeichen nicht. Vom Teufel geritten (i), las er im Titelfenster des Bildschirms. Eine Stimme drang aus den Lautsprechern: »Sagen Sie Ihrem Bruder, wenn er nochmal jemanden erschießt, soll er sich in unserem Tal nicht mehr blicken lassen!«

»Ihr sollt doch nicht immer Warner einschalten«, wandte sich Ferdinand wütend an seine Schwestern, »sonst holt euch die Post!« Es war zwar unwahrscheinlich, daß ein Interferenzmeßwagen der Post in der Nähe der Müllkolonie auftauchte, aber wenn, dann würden nur die Geräte der Schwarzseher beschlagnahmt; Warner empfangen aber hieß Lagerhaft. Gütersloh ließ nicht mit sich spaßen. Natürlich hatte jeder das Recht, sich aus allgemein zugänglichen Quellen frei zu informieren -- nur galten die Sender der Administration nicht als allgemein zugänglich.

Violetta und Vérénice antworteten nicht, hatten es nie getan. Sie waren nicht stumm, manchmal sangen sie leise vor sich hin oder plapperten scheinbar ohne erkennbaren Zusammenhang Satzbruchstücke oder Sätze, meist in einer Sprache, die nur sie allein verstanden, doch ihre einzigen Lautäußerungen bestanden aus Echo- und Idiolalie.

Beide Zwillinge hielten eine Fernbedienung in der Hand, die zum Empfänger an der Wand paßte. Die Batterien waren schwach, aber es lagen ein paar Dutzend andere in einem der Wandfässer -- der Müll war voll davon. Jetzt spielten die beiden ihr Lieblingsspiel: Sie drückten irgendwelche Tasten der Fernbedienung, um auf ein anderes Programm umzuschalten. Wegen der beiden sich widersprechenden Signale und der ausgelaugten Batterien dauerte es oft mehrere Sekunden, bis der Kanal umsprang, was jedesmal von einem freudigen Jauchzen Vérénices oder Violettas begleitet wurde.

Bilder und Töne, Sprecher und Stimmen wechselten: »-- die Hälfte der Milch im Schokoladenüberzug der Lebkuchen durch Rinderblut ersetzt haben. Dies ist zwar gesetzlich erlaubt, aber kennzeichnungspflichtig --«, »-- Verwendung von Blut kennzeichnungspflichtig, wenn auch ein durchaus gängiges --«, »-- kuschlig weich und erfrischend kühl --«, »-- Blut von Rindern fünfzig Prozent der Milch --«; nahezu wörtliche Übereinstimmungen, von Werbung abgesehen die gleichen Meldungen in allen Kanälen, natürlich, wozu sich die Mühe machen, die Texte der Nachrichtenagenturen mehr als nur umzuformulieren.

»Sie ist ein Mensch, der Schatten auf die Sonne wirft«, sage Vérénice unvermittelt, während Violetta den Mund öffnete und schloß, wie ein Goldfisch im Glas.

Obwohl es zahlreiche spezielle Sportkanäle und Sportsendungen in fast allen anderen Kanälen gab, waren die Sportmeldungen ein unverzichtbarer Teil der Nachrichten. Pelota oder Ringtennis, Biathlon oder Sumoringen waren interessanter als das Erdbeben in Datong, die Überschwemmung in Fujian, der Flugzeugabsturz über Biarritz, die Waldbrände in Kanada, selbst wenn diese noch einen gewissen Sensationswert hatten, im Gegensatz zu politischen Meldungen wie dem Umweltskandal und der Bestechungsaffäre in den Bundesländern Böhmen und Walachei oder der alte Krieg in einem Land, von dem viele nur wußten, daß sein Name mit einem I begann, manche nicht einmal das oder daß überhaupt irgendwo Krieg geführt wurde. Von größerer Bedeutung als die Sportergebnisse waren nur noch die Gewinnzahlen der staatlichen Lotterien, die Bargeld verlosten und Reisen, zusätzliche Wahlstimmen und Ankaufrechte für Wohnungen, um so allen, die mitspielten, vorzugaukeln, sie könnten irgendwann einmal das sorgenlose Leben führen, das sie aus Fernsehserien kannten, wenn das Glück nur mit ihnen wäre -- und wenn sie Pech hatten, war die bestehende Verteilung von Reichtum und Armut ganz offensichtlich gottgewollt oder stand in den Sternen.

»Nun hört schon auf!« sagte Ferdinand undeutlich, während er ein Vitamin-C-Bonbon in den Mund steckte. »Was soll denn das?«

»-- nach einer langen Nacht, und freust dich --«, »-- Auch einer der Bankräuber erlitt in dem gestohlenen Wagen, der förmlich in eine Anregungsflutwelle geraten war, schwere Verbrennungen --«, »-- ein Auge und wird vermutlich sein Leben lang gelähmt --«.

Wortlos nahm Ferdinand seinen Schwestern die Fernbedienungen ab und legte sie demonstrativ neben sie.

»Die Menschen sind so notgedrungen wahnsinnig, daß nicht wahnsinnig zu sein eine andere Form des Wahnsinns bedeuten würde. Pascal«, sagte Vérénice.

»In deinen Adern fließt Milch«, behauptete Violetta. Ihre Lider flatterten.

»... blutige Geiseldrama von Alsdorf-Höngen, bei dem am 29. September 2087 zwei unschuldige Menschen, die von Bankräubern als Geiseln genommen worden waren, durch zahlreiche Schüsse aus Anregern der Polizei den Tod gefunden hatten, beschäftigt erneut die Justiz. Ab morgen müssen sich drei Polizisten wegen fahrlässiger Tötung vor dem Aachener Schwurgericht verantworten.«

»Andere Sender melden Verkehrsstaus«, warf Vérénice dazwischen, »bei uns heißt es: freie Fahrt auf allen Strecken. Rosat -- der wirklich optimistische Kanal.« Ihre Augen sprachen der Botschaft hohn, waren wie vor Entsetzen weit geöffnet.

»Den Polizisten wirft die Staatsanwaltschaft vor, sie hätten erkennen müssen, Zitat, daß der Einsatz von Anregungswaffen in der konkreten Situation unzulässig war, Ende des Zitats. Einem siebenundzwanzigjährigen Polizeiobermeister wird weiterhin zur Last gelegt, daß er über die Flucht der Räuber im Bild war, seine Kollegen aber weder davon unterrichtet, noch sie vor dem Schußwaffengebrauch gewarnt hatte «

Ferdinand trat zum Herd, auf dem in einem Dampfdrucktopf eine Suppe aus Zwiebeln und Kartoffelschalen kochte. Er schob ihn von der Kochplatte auf den Magnetrührer; der glasumhüllte Stabmagnet im Topfinneren scharrte am Boden. Ohne den Deckel geöffnet und somit dem kostbaren Wasser Gelegenheit zum Verdampfen gegeben zu haben, stellte er den Topf auf die heiße Platte zurück. Das Brot, das er am Morgen gestohlen hatte, würde, in die Suppe gebrockt, zwei Tage reichen.

Er nahm eine Flasche aus einem Wandgefäß, öffnete sie, bildete mit der hohlen Hand einen Flansch um Flaschenhals und Nase und atmete tief ein. Lösungsmittelschnüffeln war weit verbreitet, jedes Kind konnte geeignete Lösungsmittel beschaffen. Ferdinand verschraubte die Flasche und stellte sie zurück.

Ein bewegungsunscharfes Standbild aus einem von einer automatischen Kamera aufgenommenen Video hinter dem ausgestanzten Sprecher auf dem Fernsehschirm, weißbehelmte Polizisten vor einem Wagen mit teils geschwärzten, am Rand orangeglühenden Seitentüren, Blasen werfendem Lack, geschmolzenen Glasscheiben wie erstarrtes Wasser: »... Polizeibeamten aus ihren Anregungswaffen insgesamt über vierzig Schuß abgefeuert. Sie hatten offenbar geglaubt, alle vier Insassen des Wagens seien Bankräuber « Es folgte ein entrüsteter Kommentar, der die Handlungsweise der Polizisten verurteilte, zugleich aber ausdrücklich die Verantwortung der Bankräuber betonte. Der Tenor verschiedener Zeitungsmeldungen wurde vorgebracht, die den Tod der Geiseln bedauerten. Ein Passant in einer Straßenumfrage sagte: »Wer ist denn Schuld daran? Diese Gangster! Die müßten für den Schaden aufkommen. Die Polizei hat doch nur ihre Pflicht getan. Sklavendienst leisten müßten diese Verbrecher, ihr Leben lang; das verdienen sie doch nicht anders«, »An die Wand stellen! Wer sich an fremdem Eigentum vergreift: zack! Rübe ab. Das ist meine Meinung«, ein zweiter und ein dritter: »Zwölftausend, soviel bekomme ich in drei Monaten nicht, und die wollen sie in ein paar Minuten zusammenraffen? So etwas müßte verboten werden.«

Zwölftausend Ecu. Ferdinand betrachtete den Brotlaib, der auf dem Tisch lag -- und das Preisschild neben dem Barcode auf der Frischhaltefolie: ¤ 11,98.

Dann stellte er sich zehn solcher Laibe nebeneinander vor, zehn Reihen hinter- und zehn Schichten übereinander: Dafür waren die Polizisten bereit gewesen, vier Menschen zu töten, aber die Öffentlichkeit kümmerten natürlich nur die beiden Geiseln. Schließlich waren die anderen Entführer gewesen, Verbrecher. Ja, das waren sie, aber die Polizisten hatten nichts davon gewußt, versuchte Geiselbefreiung konnten sie nicht als Motiv vorschützen, sie hatten alle vier für Räuber gehalten. Vier Menschen, von denen jetzt zwei nicht mehr am Leben waren, wegen des Gegenwertes von zwei Kubikmetern Brot. Wenngleich da unbestreitbar eine Verbesserung war gegenüber einer Zeit, in der Kinder hingerichtet worden waren, weil sie einen Bissen Brot gestohlenen hatten.

Die Mädchen wiegten ihren Körper rhythmisch vor und zurück. Vérénice sagte: »Zwei Schilder am Weg der Menschheit: Einbahnstraße -- und Sackgasse.«

»Wir müssen dem Verbraucher die blumenkohlartigen Gewächse an den Fischen eben schmackhaft machen«, erwiderte Violetta.

Ferdinand leckte über seine Unterlippe, die eitrig und geschwollen war; vor ein paar Tagen war sie aufgeplatzt, als der Stiefel eines Polizisten sie getroffen hatte.

Mit Ausnahme der blaßrosa Lippen wies die Latexhaut, mit der das Gesicht des Zimmerkellners verkleidet war, eine dunkelbraune Färbung auf. Überhaupt verlieh ihm die Maske mit zahlreichen Ziernarben, wie sie bei Tutsie der Oberschicht in Mode waren, und das künstliche schwarzgekräuselte Haar das Aussehen eines Afrikaners. Das Aussehen, wie der Durchschnittsaltweltler es erwartete; Dr. h. c. Franz X. Krautheim, bayerischer NSU-Subsidiaritätsminister, glaubte es besser zu wissen. Sein Ehrendoktor war ihm unter anderem für die wirtschaftlichen Kontakte, die er mit verschiedenen afrikanischen Stadtstaaten geknüpft hatte, verliehen worden. In der rwandischen Republika y'u Kigali beispielsweise hatte er vor allem die Milchwirtschaft gefördert, Rinder-, Schaf- und Ziegenzucht, aber auch die Fabrikation von Pyrethrum, einem »natürlichen« Insektizid aus Wucherblumen, den Export von Kalktuffen aus Cyangugu, die für die Zementherstellung verwendet wurden, sowie K2O-haltiger (i) Laven für die Düngemittelproduktion; und das wäre ihm unmöglich gewesen, ohne hin und wieder mit wirklichen Afrikanern zusammenzutreffen oder zumindest mit ihnen am Bildschirm zu konferieren; den Mwami des Royaume du Burundi, König Ntare, hatte er sogar mehrmals in der Hauptstadt Bujumbura getroffen, und so bildete er sich ein, feine Unterschiede zwischen den echten Tutsie und der Nachbildung zu erkennen, wenn er auch nicht den Finger darauf legen konnte, was es war. Doch dieser kleine Fehler störte ihn nicht, er verlieh ihm vielmehr ein Gefühl der Überlegenheit, ja der Allwissenheit, und er genoß es, dem Neurobot bei der Zubereitung der Garnelen zuzusehen. Mit einem Werkzeug, das an eine Zuckerzange erinnerte, nahm der Neuro die sich krümmenden Krustentiere vorsichtig aus der Soliportransportbox, um sie in einer bereitstehenden flachen Schüssel, die mit Weißwein gefüllt war, zu ertränken. Wie Zirkusakrobaten schnellten die Krebse hoch, schlugen einen Salto -- weniger pietätvoll ausgedrückt: Salto mortale -- und landeten wieder in ihrem Weinbad. Meist. Bei einigen drohte die Flugparabel neben der Schale, auf dem Tisch oder Boden zu enden, doch mit einer Schnelligkeit und Präzision, wie sie nur einer Maschine möglich ist, schnappte der Neuronale Roboter danach, pflückte sie mit der Zange aus der Luft und legte sie behutsam in die Weinschale zurück.

»Zimmerservice«, sagte Krautheim, ohne trotz aller Mühe, die er sich gab, seinen bairischen Akzent unterdrücken zu können, und seine Stimme wurde von dezent verborgenen Mikrophonen aufgefangen. »Ich möchte ein Bad nehmen.«

In jedem gewöhnlichen Hotel hätte der Appartementrechner das Bad eingelassen, doch nicht hier, wo Laserdrucke Katterli Frauenfelders an den Wänden hingen: Augenblicke später klopfte es an die Tür, und auf Krautheims Herein! betrat ein Zimmermädchenneurobot den Raum, dessen Latexhaut nur um eine Nuance heller war als die des anderen Neuros, glitt ins angrenzende Badezimmer und öffnete den Warmwasserhahn der Wanne von Hand.

Krautheim entnahm einer Schatulle, die auf dem Tisch stand, ein kreisrundes, rot-weiß rautiertes Pflaster, zog die Folie von der Klebefläche ab und setzte es sich in den Nacken, dann wandte er sich wieder den ertrinkenden Garnelen zu. Automatische Armaturen hätten nur ein paar Ecu gekostet, der Preis für diese beiden Neuronalen Roboter war dagegen durchaus mit dem eines Hove'Rolls zu vergleichen. Es war zudem reines Trinkwasser, das in die Wanne floß. Was Krautheim nicht verschwendete, war ein Gedanke daran.

Sein birnenförmiger Körper füllte die Höhlung des Sessels nahtlos aus. Die kurzen, dicken Beine wirkten geradezu winzig dagegen, staken wie vergessen und nachträglich hinzugefügt im Rumpf. Die Wirkstoffe im Pflaster durchdrangen die Haut, seine Pupillen begannen sich zu weiten. Er trug einen Kimono, zusammengehalten von einem Obi. Der kostbare Gürtel war nur lose vor seinem Bauch verschlungen.

Während Krautheim fasziniert die Garnelen beobachtet hatte, war die Pfeife, die in seinem Mundwinkel hing, erloschen. Der Kopf aus Bruyèreholz, dessen rot-orange Maserung an züngelnde Flammen erinnerte, wärmte kaum noch die Handfläche, an die er sich schmiegte. Das Holz stammte von den kopfgroßen Wurzelknollen eines dem Heidekraut verwandten, strauchähnlichen Gewächses; die Pfeife war eine echte Sixten Ivarsson.

Überrascht bemerkte Krautheim, als er wieder am Mundstück sog, daß kein Rauch mehr aus der Öffnung drang. Er nahm das Pfeifenfeuerzeug vom Tisch und entzündete den Tabak erneut. Die Gravur im Gold des Feuerzeugs zeigte das Wappen der Elfenbeinküste, dessen Schöpfer das längst ausgestorbene Wappentier, nach den zusammengekniffenen Augen zu schließen, nach einem toten Modell porträtiert haben mußte, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch lebende Exemplare gegeben hatte. Krautheim legte das Feuerzeug zurück auf den Tisch, sog an der Pfeife und nippte dann an seinem Apéritif, einem Gin Tonic.

Durch die Wand aus phototropem Glas, die jetzt wegen der Bewölkung kaum abgedunkelt war, sah er den roten Turm, der wie es schien die Wolken anzukratzen versuchte. Warner Bothers hatte bereits im vergangenen Jahrhundert damit begonnen, solche »Begegnungszentren« zu errichten. Die Kinos und Bars in den Warner-Multiplexen waren bald zweitrangig geworden -- Nebenprodukte machten das Hauptgeschäft aus. Wenig später hatte Bertelsmann nachgezogen, und inzwischen bildeten diese beiden Konzerne die wichtigsten Regierungstrusts: Warner-Time nannte sich Administration West; die Regierung Altwelt hatte ihren Sitz in Gütersloh. Die meisten ehemaligen sowjetischen Splitterrepubliken spielten wirtschaftlich und damit politisch ebensowenig eine Rolle wie Australien, das ein bißchen unabhängig und, wenn auch nicht de jure, so doch de facto ein bißchen britische Kronkolonie war, oder die wie Algen wuchernden Stadtstaaten in Afrika und Südamerika. Neben dem neusozialistischen Sibirien, der Kornkammer Asiens, übte lediglich Kaiser Yataro von Mitsubishi und damit Japan noch einen gewissen Einfluß aus, wenn dort auch die Weiterentwicklungen von Teehäusern, in denen Neuronale Geishas auch ohne Schminke perfekt das traditionelle Schönheitsideal verkörperten, stärkere Bedeutung hatten als vordergründig medienbezogene Multiplexe oder Connexe, die durch psychedelische Technik bukolische Kunstwelten schufen, exakt definierte Gehirnbereiche direkt stimulierten und mit menschlicher Biochemie spielten, indem sie Wirkstoffmoleküle zusammensetzten wie Kinder Legosteine. Doch der Sinn stand Krautheim nicht nach solchen Vergnügungen, die einen Nachgeschmack hinterließen wie die künstlichen Aromastoffe in billiger Waldmeisterlimonade. Er wollte keine makellosen Barbie-Puppen für Erwachsene. Was er brauchte, war kein lebloses, unwirkliches Simulacron, kein teures Psychotonikum; es war etwas ganz anderes ... Er schob sein Notizbuch ins Telefon; der Bildschirm wurde hell, und Krautheim stieß seinen Zeigefinger auf einen der Namen, die dort angezeigt wurden.

Die Lebenskräfte der Garnelen lösten sich langsam im Wein auf wie Kandiszucker in heißem Tee.

[...]

»Misthaufen wachsen, Schlösser fallen«, sagte Vérénice wie zu sich selbst. Violetta sprach flüsternd mit der weiblichen Spinne, die auf ihrem angewinkelten Knie saß, und streichelte sanft den silbrigen Pelz ihrer Kopfbrust.

»Lämmchen!« Auf einen Wink Angelos drängte sich Laemmle an Ferdinand vorbei und ging auf die beiden Kinder zu. Er packte sie mit einer Hand am hinteren Bund ihrer Hosen und hob sie hoch wie einen Koffer am Griff. Ihr Strampeln war für ihn nicht lästiger als das Krabbeln einer Pferdebremse für einen Haflinger.

»Januskinder sind selten; womöglich sterben die Doppelköpfigen aus«, sagte Angelo und lachte.

»Es gibt keine Menschen mit zwei Köpfen«, stieß Vérénice abgehackt hervor -- sie keuchte, weil sie, wie ihre Schwester, noch immer mit den gemeinsamen Beinen strampelte -- »nur zwei Menschen mit einem Körper.«

Ferdinand betrachtete sie verwundert, denn zum ersten Mal hatte er einen Zusammenhang zwischen dem, was die beiden von sich gaben, und der Wirklichkeit entdeckt. Die anderen bemerkten natürlich nichts davon.

Das Baby hatte begonnen, ein ersticktes Gurgeln von sich zu geben, das bei ihm einem lauten Schrei entsprach. Vielleicht hatte es Schmerzen; seine rechte Wange, sein Ohr, seine Schläfe waren ein einziger blutiger Klumpen, mit weißem Reis gespickt. Die Reiskörner waren Maden, Larven der Schraubenwurmfliege (i). Angelockt von frischem Blut oder Lymphflüssigkeit, legten die Weibchen in offene Wunden ihre Eier. Diese entwickelten sich innerhalb weniger Stunden zu schraubenförmig gewundenen Maden, die sich ins Fleisch des Wirts fraßen. Die Wunde weitete sich aus, entzündete sich und lockte andere Fliegenweibchen an. Durch das Aussetzten von Abermillionen männlicher, mit Gammastrahlen sterilisierter Schraubenwurmfliegen war die Plage in ihrer Heimat, Süd- und Mittelamerika, nahezu ausgerottet, doch bereits im vorigen Jahrhundert hatten die Fliegen Afrika, Nord-Libyen und die Mittelmeerinseln heimgesucht. Mit der Veränderung des globalen Klimas waren sie in Spanien, Italien, Griechenland und Südfrankreich eingefallen. Und jetzt quälten sie, die bei Temperaturen von zehn Grad Celsius und darunter nicht überleben konnten, Menschen und Vieh hier in Berlin. Aber vielleicht schrie das Baby einfach nur, weil es hungrig war.

»Wer Perlen mit den Säuen frißt«, sagte Violetta leise, »wird danach stinken.«

»Laßt sie in Ruhe!« stieß Ferdinand endlich trotzig hervor.

[...]

Violetta und Vérénice waren frisch gewaschen, in Eselsmilch gebadet, mit kostbarem parfümiertem Öl gesalbt und in teure Stoffe gehüllt. An Violettas Oberarm klebte wie ein Muttermal ein dunkelrosa Pflaster. Sie kaute auf den Spitzen einer Haarsträhne Vérénices.

Krautheim lag in seinem Sessel und sah die beiden Mädchen an, wie sie ihm gegenüber auf der Couch saßen; seine Mundwinkel stießen die feisten Wangen nach oben. Fettflecke auf seinem Kimono zeugten von den gebutterten Garnelen, die er gegessen hatte, vielleicht auch von den anderen Gerichten, die er in homöopathischen Dosen, wie sie in der traditionellen Küche üblich waren, verspeist hatte, von der Hechtklößchensuppe, der Kalbfleischpastete, den Filet-Medaillons mit Lebermus, dem Kalbsrücken »Paris« mit Gänseleber, den Kalbfleischröllchen mit frischen Feigen -- nach deren Genuß er einen Vomitif zu sich genommen hatte -- den gefüllten Hamburger Stubenkücken, den Wachteleiern in Madeira-Gelee, den mit Shrimps-Cocktail gefüllten Tomaten, der getrüffelten Salmtorte »Louis Quatorze« oder den Räucherlachsröllchen mit Apfelkren. Der überproportionale Anteil an Kalbfleisch in seinem Essen war nur zu verständlich, denn er hatte die Kälber an diesem Morgen bei einer Treibjagd selbst erlegt. Flugpolizisten, die sonst, rucksackähnliche Düsenaggregate auf dem Rücken, Demonstranten jagten, empfanden es als angenehme Abwechslung, hin und wieder einem Industriellen oder Politiker seine Jagdbeute zuzutreiben, kurz zuvor ausgesetzte Kälber gewöhnlich, denn jagbares Wild gab es in der Grassteppe Deutschlands nicht mehr. Krautheim liebte alte Waffen, und mit dem Küchentomographen konnte die Munition in der Beute leicht entfernt werden; daher tat es seinem Jägerstolz keinen Abbruch, daß er ein Maschinengewehr benutzt hatte. Selbstverständlich war ein solches Vergnügen nicht halb so aufregend wie die Eisbärjagd, an der er in der Administration, genauer im Norden Amerikas, teilgenommen hatte. Ein leichter Kitzel der Gefahr hatte diese Jagd begleitet, denn mit dem Rückgang natürlicher Beute hatten die Bären sich als Zivilisationsfolger in den Müllbergen breitgemacht, in denen sie erfolgreich nach Nahrung suchten. Die Gefahr ging nicht so sehr von den Tieren aus, die an Menschen gewöhnt und nicht sehr angriffslustig waren, sondern vielmehr von Rauch und Feuer im sich selbst entzündenden Müll. Krautheim hatte mehrere Bären erlegt, ehe er ein Fell, das nicht versengt war, als Trophäe sein eigen nennen konnte. Es war ein faszinierend widersprüchlicher Anblick gewesen: Eisbären, die durch züngelnde Flammen wanderten.

In der Hand hielt Krautheim einen dreigeteilten Dessertteller. In einem Drittel lagen Kiwischeiben und Erdbeeren, die Häubchen aus geschlagener Sahne trugen, im zweiten Fach zierten Bananenscheibchen braune Mousse au chocolat und Ananasstückchen weiße Mousse à la vanille, und die dritte Vertiefung war gefüllt mit Orangensegmenten, deren Zwischenhaut entfernt war, rosenwasserbeträufelt und zimtbestreut, und entkernten Litschihälften, am Stielansatz zusammengehalten von ihrer rauhen braunen Schale, die innen mit einem hellvioletten, flüssigkeitsundurchlässigen Film überzogen war. Krautheim wußte, wie sehr Litschi und tunesischer Orangensalat harmonieren würden, und nach dem Speichel zu urteilen, der seinen Mund füllte, wußte sein Körper es auch. Doch die Orangenfilets glitten immer wieder von der winzigen zweizinkigen Gabel. So warf er das Eßgerät verärgert über die Schulter, hob den Teller an die Lippen und schob schlürfend, als ob er das Fleisch aus einer Austernschale saugte, das Essen mit der Hand in den Mund. Als der Teller leer war, ließ er ihn auf den Boden fallen, wo er auf eine halbvolle Flasche Spätburgunder Kabinettwein -- 83er Sasbachwaldener Alde Gott -- fiel und zerbrach, und wischte, nachdem er der Reihe nach an allen fünf Fingern gelutscht hatte, die Hand am Kimono ab.

Er leckte ein paar Reste Mousse, die eine Parodie des Blut- und Eitergemischs an Ferdinands Lippen hätten sein können, vom Kinn, spülte mit seinem Digestif -- Cointreau -- nach und sah wieder grinsend die Zwillinge an.

»Steh auf!« befahl er.

Vérénice sagte: »Die Freiheit ist das Recht, alles zu tun, was die Gesetze erlauben. Meint Montesquieu.«

Wie das Gedärm eines Kaninchens, das ausgeweidet wird, fielen Krautheims Mundwinkel herab.

»Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden«, ergänzte Violetta ihre Schwester, »solange er nicht anders handelt.« Dann sah sie sich suchend nach einer Fernbedienung um, mit der sie den ekelhaften Kerl würde ausschalten und auf ein anderes Programm wechseln können.

Sie fand keine.

[...]


Diese Erzählung wurde 1994 und 1997 veröffentlicht.