Achim Stößer

Veni, vidi

(Auszug)

Als die Gameten meiner Eltern verschmolzen, war meine Mutter sechzehn und süchtig. Sie hatte angefangen, Drogen zu nehmen, bald nachdem sie mit elf zum ersten mal vergewaltigt worden war, um die Angst vor dem nächsten Mal und die Angst vor der Hölle in sich abzutöten, der Hölle, in die Gott sie, so war ihr gesagt worden, unweigerlich schleudern würde, wenn sie irgendjemandem ein Sterbenswörtchen verriete. Alkohol zuerst -- zum Teil teurer Meßwein, mit dem sie ruhiggestellt wurde -- dann Leim und Tabletten, später härtere Sachen.

Eine Abtreibung kam natürlich nicht in Frage, dazu waren sie und vor allem ihre Mutter zu katholisch. Zwar erlaubt der katholische Katechismus das Töten der Geborenen -- etwa in »gerechten Kriegen« oder als Todesstrafe -- aber das Töten von Ungeborenen, dieses schwere Vergehen gegen das menschliche Leben, wird unweigerlich mit Exkommunikation bestraft. Vom Verbot der Abtreibung gibt es keine Ausnahme, es gilt immer und überall, »unabhängig von den weiteren Absichten der Handelnden und von den Umständen«, so verkündete Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika »Glanz der Wahrheit«. Das war damlals auch, Jahre vor der Enzyklika, die Ansicht des Pfarrers, der meine Mutter und ein Dutzend anderer Kinder regelmäßig mißbraucht hatte und der, als seine Kirchenoberen die Gerüchte nicht mehr länger ignorieren konnten, in eine andere Diözese versetzt wurde. Ich habe ihn daher nie kennengelernt, und es fällt mir schwer, ihn als meinen Vater zu sehen. Ironischerweise habe ich all dieser Qual mein Leben zu verdanken, und getauft bin ich auf den Namen Viktor.

Schließlich kam meine Mutter in ein kirchliches Heim für schwangere Teenager. Das Kirchliche daran war selbstverständlich nicht etwa die Finanzierung -- für diese kam wie üblich der Staat auf, auch wenn die Kirchenpropaganda das erfolgreich vertuscht -- sondern Einstellungspolitik und gesetzlich geregelter Tendenzschutz, so daß einer weiteren Indoktrination mit Hölle und Verdammnis, Schuld und Sünde Tür und Tor offen standen. o-o Wenn aber dein rechtes Auge dir Anlaß zur Sünde gibt, so reiß es aus und wirf es von dir. o-o Auge um o-o Auge ...

Damit ersetzte sie die Chemikalien, von denen sie abhängig war, durch ein geistiges Methadon; nun, nicht ganz, ich erinnere mich noch, wie, als ich gerade mein Studium begann, die Grünen wieder einmal Bedenken gegen den Verbrauch von Weihrauch vorbrachten, weil er zwischen 11 und 14% Haschisch (i) -- dessen Wirkstoff, genauer gesagt -- enthält, so daß also auch Kinder in Gottesdiensten zentnerweise diesem Stoff ausgesetzt werden, denn jährlich werden mehrere Tonnen Weihrauch verbraucht. Und dabei bleibt es.

All die Drogen, die meine Mutter konsumiert hatte, wirkten sich jedenfalls auf den Embryo aus. Den Embryo, recht sachlich und neutral klingt das, als ob nicht ich es gewesen wäre. So wurde ich also nach knapp sieben Monaten geboren, winzig, schwach, kaum lebensfähig; das Licht der Welt, wie es so schön heißt, erblickte ich nicht, denn ich war blind.

***

Die blutenden Birken sind wohl meine erste bewußte Erinnerung. Es machte mir Angst. Vier, fünf Jahre alt, in ständiger Dunkelheit, und um mich plötzlich diese Stimmen, Stimmen, die sprachen, und doch nichts sagten. Heute weiß ich, daß es Dialekt gewesen sein muß, doch damals hielt ich die Wesen um mich für Dämonen, jene unheimlichen übernatürlichen Wesen, von denen, so hatte meine Mutter mir erzählt, die Menschen gepeinigt wurden.

Die Erscheinungsstätte Heiliger Berg Heroldsbach war wirklich ein besonderer Fleck auf Gottes Erdball. Eine Heilquelle sprudelte an diesem Wallfahrtsort. Drei Jahre lang hatte es Visionen der lieben Gottesmutter des Jesuskindes, vieler Engel und Heiligen und der Heiligsten Dreifaltigkeit gegeben. Wirklich. Dreihundert Pilger sahen die Gottesmutter, tausend das große Sonnenwunder. Dazu kamen noch die Russenvisionen, was immer das sein mag.

Und jetzt, ganz frisch, rechtzeitig zum Pfingsfest 1992, ein erneutes Wunder: Im nahen Wäldchen bluteten die Birken. Pilger wischten Menschenblut von Birkenstämmen: »Betet und tut Buße zur Abwendung des Unheils«, verstand ich hier und da zwischen all dem dämonischen Stimmengewirr. »Das ist echt, hundertprozentig.« -- »Wunder gibt's, daran glaube ich.« Von allen Seiten.

Nun, nicht von allen. Zehn Kilometer weiter gäbe es das gleiche Phänomen, hörte ich jemanden erklären -- es muß wohl der Forstdirektor gewesen sein, der ein Interview gab. Das sei ganz normal, Birken harzten eben. »Ich vermute«, erklärte der tapfere Mann, »wenn der liebe Gott uns ein Wunder zeigen will, macht er's nicht am armseligen Saft einer Birke.«

Meine Mutter zog mich rasch fort.

Mit acht, in Lourdes, wo Bernadette Soubirous in der Grotte von Massabielle Marienerscheinungen gehabt hatte, sah ich das schon viel gelassener, ich wußte, daß nicht alle Menschen Deutsch sprechen, und die babylonische Sprachvielfalt um mich faszinierte mich weit mehr als die langweiligen Litaneien, mit denen der allmächtige zornige liebende strafende Gott dazu bewegt werden sollte, mir durch das wunderkräftige Quellwasser mein Augenlicht wiederzugeben. Aus irgendeinem Grund aber war Gott gerade damit beschäftigt, Menschen in San Francisco zu erschüttern, und konnte sich nicht um meinen Gesichtssinn kümmern.

Es dauerte lange, bis es mir gelang, diesen Aberglauben abzuschütteln, mich freizumachen von der krankhaften Theodizee, (i) denn all das Leid in der Welt, so hieß es, war von Menschen verursacht, denen Gott nicht ihren freien Willen nehmen wollte, und in meinem Fall war es, auch wenn ich das damals noch nicht herausgefunden hatte, tatsächlich die Schuld der Menschen: die Sucht meiner Mutter, die zu meiner Blindheit geführt hatte, und die seltsame Nächstenliebe, durch die sie in die Sucht getrieben worden war. Hungersnöte waren nicht etwa von Gott gewollt, sondern lagen an der ungerechten Verteilung der Nahrungsmittel. Oder sie schoben alles Böse dem Satan in die Schuhe, der Tanklaster aus der Kurve trug und Tschernobyl zu Ehren meiner Geburt in die Luft gejagt hatte -- ohne zu erklären, wie der Teufel den allmächtigen Gott überlisten konnte, oder weshalb Gott, dem in seiner Allwissenheit klar gewesen sein mußte, was geschehen würde, den Teufel und damit das Böse überhaupt erst erschaffen hatte. Niemand wurde gezwungen, auf der San-Andreas-Verwerfung zu leben, warum also sollte Gott Erdbeben verhindern? Und hatte er nicht selbst schon durch eine weltweite Flut fast alle Menschen ersäuft, weil sie Sünder waren? Welche Sünden die Kinder und Tiere, die dabei, hätte die Sintflut wirklich stattgefunden, ums Leben gekommen wären, und wessen freier Wille eingeschränkt wird, wenn ein Kind nicht an Leukämie stirbt, danach fragte ich damals nicht. An dem Tag, an dem ich zur Vernunft kam, war ich dreizehn.

***

»Fußballspielen kann ich nicht ausstehen«, sagte ich.

»Aber warum denn? Das macht doch Spaß.«

Rafael war fast zwei Jahre älter als ich, doch ausgesprochen kindisch. Er hatte mit der Pistole seines Vaters gespielt, und häufig ist es so, daß ein solch traumatisches Ereignis -- Polio etwa oder, wie in Rafaels Fall, Blindheit durch einen Kopfschuß -- dazu führt, daß der Betroffene in der Entwicklung stehen bleibt. Er war ein Zehnjähriger im Körper eines bald Erwachsenen, fehlender Gesichtssinn ging mit fehlernder Einsicht einher. Viele in der Blindenschule waren derart retardiert; integrierter Unterricht war damals noch nicht allgemein üblich, was das Problem noch verstärkte. Blind geboren zu sein hat auch Vorteile.

Ich mochte Rafael nicht besonders und wich ihm lieber aus, aber seine Eltern hatten mich über die Ferien zu sich eingeladen, wohl, weil ich anscheinend ebenso religiös war wie sie, und aus Höflichkeit hatte ich zugesagt. Nun ja, die Tatsache, daß seine Eltern reich waren, hatte sicher auch eine Rolle gespielt. Ihre Villa im Tessin war ganz bestimmt ein angenehmerer Aufenthaltsort als die Schule.

Es war heiß, die Sonne brannte in meinem Gesicht. Das Wasser im Pool plätscherte verlockend. Rafael litt, nach dem Geruch der Salben zu schließen, die er wohl fingerdick auftragen mußte, unter unreiner Haut. Heute würde ich ihn wohl fragen, wieso er sich von einem Gott Erlösung erhofft, der nicht einmal in der Lage ist, Akne zu kurieren -- gemein, ich weiß, aber das Bohren in kariösen Zähnen kann weh tun.

Ich versuchte, das unbestimmte Gefühl zu verbalisieren. »Es muß doch albern aussehen, wenn wir über den Rasen stolpern, einem piepsenden Ball hinterher, uns ständig anrempeln.« Ebenso albern, wie wenn Sehende das tun, aber das war mir damals nicht klar.

Wir hatten den gesamten Vormittag über Bücher gehört und langweilten uns. Der Beckenrand war zehn Schritt entfernt, und ich spielte mit dem Gedanken, ein paar Züge im abkühlenden Wasser zu schwimmen; nur der Chlorgeruch hielt mich davon ab. Stattdessen trank ich einen Schluck Limonade. Die Eiswürfel klirrten. Kondenswasser machte das Glas glitschig, beinahe wäre es mir aus der Hand gefallen.

Rafaels kleine Schwester, Elsa, saß am Becken und patschte mit den Füßen im Wasser. Mit fiepsender Stimme sprach sie mit dem Dobermann, erzählte, daß nächste Woche ihr vierter Geburtstag sei, worauf der Hund bellend antwortete. Ein riesiges Vieh, sein Kopf reichte mir bis zur Brust, und es stank fürchterlich. Zweimal schon war es mir zwischen die Beine geraten und hatte mich zu Fall gebracht. Es war nicht gerade intelligent, von Rafael hätte es doch den Umgang mit Blinden gewöhnt sein müssen. Rafaels Blindenhund, eine Schäferhündin namens Diana, war zwei Monate zuvor an Altersschwäche gestorben.

Der Dobermann blaffte, Elsa kreischte. Ein lautes Platschen. Sie schrie und strampelte im Wasser.

»Elsa?« rief Rafael. »Elsa!«

Mit einem klatschenden Geräusch wuchtete der Hund sich an Land. Er schüttelte das nasse Fell aus, bellte zweimal.

»Kann sie schwimmen?« fragte ich. »Ob sie schwimmen kann?« Ich griff in die Richtung, aus der Rafaels Stimme kam, erwischte seinen Arm und schüttelte ihn. »Antworte!«

»Was? Nein, nein, mein Gott.«

Elsa schrie nicht mehr, nur das Schwappen des Wassers an der Beckenwand war zu hören. Ich sprang auf, lief. Ich mußte mich verschätzt haben, verlor den Boden unter den Füßen und stürzte ins Wasser. Ich war völlig desorientiert, schwamm, bis ich gegen den Rand stieß. Das Chlor brannte in meinen Augen.

Von Elsa war kein Laut zu hören. Der Hund winselte. Ich schwamm los, wirr, ohne Ziel, machte kehrt, tauchte. Minuten, Stunden schienen zu verstreichen. Mehrmals prallte ich gegen die harten Kacheln; als ich endlich mit etwas Weichem zusammenstieß, packte ich zu. Ich schleppte den leblosen Körper hinter mir her, hievte ihn aus dem Wasser, kniete daneben nieder.

Ich griff an ihren Hals. Blut pulsierte durch die Schlagader, sie lebte. Ich tastete weiter. Das klebrignasse, rüschenbesetzte Bikinioberteil lag still, ihr Brustkorb hob und senkte sich nicht.

Der Dobermann hechelte mich an, die stinkende Luft aus seinem Maul verursachte in mir Übelkeit. »Nimm das Vieh weg!« herrschte ich Rafael an, ohne zu wissen, wo er steckte, doch er rührte sich nicht.

Ich überstreckte Elsa im Nacken, schloß ihren Mund mit dem Daumen und preßte vorsichtig Luft durch ihre Nase. Nicht viel, sie war noch so klein. Während ich den Kopf hob, um Atem zu schöpfen, begann der Hund schlabbernd, ihr Gesicht zu lecken, beinahe wäre ich gegen seine Schnauze geprallt. Ich stieß ihn energisch beiseite, zum Glück ließ er es sich gefallen.

Der nächste Atemzug, noch einer, langsam, regelmäßig. So regelmäßig es in der Aufregung ging.

Stöckelschuhe klapperten vom Haus her über die Steinplatten. »Elsa!« rief Rafaels Mutter. »Oh, mein Gott!« Eine Unterbrechung im regelmäßigen Tacktack: sie war umgeknickt, schleuderte einen Schuh davon, der mit einem Rascheln in die Büsche fuhr. Humpelnd lief sie weiter.

Elsa zuckte, hustete, wand sich, dann begann sie zu weinen. Sie würgte und spuckte. Aber sie atmete.

Jeden Augenblick mußte der nette Herr vom Arbeitersamariterbund kommen, um mir ein Lob auszusprechen.

»Gott sei Dank«, sagte Rafaels Mutter schluchzend. »Gott sei Dank!«

Etwas brach in mir auf. Nicht, daß sie Gott dankte statt mir, auch wenn es mehr als nur eine Redewendung war. In ihren Augen, das sagte sie später mehr als nur einmal, war es Gott gewesen, der Elsa gerettet hatte, und mich lediglich als Werkzeug benutzt. Was den Ausschlag gab, war, daß es für mich selbstverständlich gewesen war, das Mädchen aus dem Wasser zu ziehen. Ich hatte keinen Gedanken daran verloren, daß das etwa ihren freien Willen oder den des Hundes, der sie hineingestoßen hatte, beeinträchtigen würde. Gott, der allmächtige, liebende Gott, stand alltäglich dabei, wie Kinder in Bangladesch ertranken, in der ganzen Welt, verhungerten, überfahren wurden, mißhandelt, krank, ohne etwas dagegen zu tun. Gäbe es ihn wirklich, müßte er sich wegen milliardenfacher unterlassener Hilfeleistung verantworten.

Im Jahr darauf starb meine Mutter an einer Überdosis Schlaftabletten.

***

Briefträger, Schauspieler, Elektriker oder Maler kam für mich als Beruf zwangsläufig nicht in Frage (obwohl ich mir bei Kunstmalern inzwischen nicht mehr sicher bin), und ich wollte auch nicht mein Leben lang Bürsten binden oder Leierkasten spielen. Vom Hiob-Syndrom war ich geheilt, und mein Gehirn war frei für nützliche Dinge. Eine zeitlang trug ich mich mit dem Gedanken, Mathematik zu studieren, denn viele Zweige der Mathematik sind so theoretisch, so abstrakt, daß Vorstellungsvermögen wesentlich wichtiger ist als Sehen, ja sogar entscheidend. Mit siebzehn allerdings ersetzte ich meinen weißen Stock durch einen Handschuh, den ich entwickelt hatte (und der übrigens den Regionalwettbewerb «Jugend forscht« gewann und beim Landeswettbewerb den zweiten Platz erreichte). Ich nannte ihn WYSIWYF, what you see is what you feel. Sensoren vermaßen den Abstand zur Umgebung, und ein haptisches Feedback wie bei einem gewöhnlichen Dataglove ermöglichte es, die Gegenstände quasi aus der Ferne zu ertasten. Dies erfordert zwar etwas Übung, aber das gilt auch für den Stock, und dieser ist dem Handschuh deutlich unterlegen. Finanziell war der FingerView, so die kommerzielle Bezeichnung, für mich kein Erfolg, da ich es versäumt hatte, mir die Patentrechte zu sichern, doch von da an stand mein Berufsziel fest.

***

»Ich wußte nicht, daß du --« Betreten schwieg Hannelore.

»Daß ich blind bin? Ist das ein Problem?«

»Nein, nein, das nicht, aber ...«

»Darf ich nicht erst einmal eintreten? Zeig mir doch bitte, in welchem Zimmer ich schlafe.« Ich wollte in Hannover zur CeBit gehen, und die Mitwohnzentrale hatte mir dieses vorübergehend leerstehende WG-Zimmer vermittelt. So etwas ist allemal angenehmer, und vor allem billiger, als ein Hotel. Als Student mußte ich sparsam sein, trotz der Zuschüsse wegen meiner Blindheit. Der freie Eintritt im Zoo nützte mir nicht viel, und warum sollte ich mir auch die Schreie eingesperrter Tiere anhören, deren Angstschweiß und die Ausscheidungen riechen, mit denen sie sich gegenseitig unfreiwillig drangsalieren, den Gestank im Affenhaus antun, das modrige Wasser, in dem ein Nilpferd dahinvegetiert, den scharfen Geruch der Raubkatzen, das nach toten Fischen riechende Robbenbecken? Jemand, dessen Sinne von visuellen Wahrnehmungen dominiert werden, kann vielleicht die Gitterstäbe aus dem, was er sieht, ausblenden. Wegsehen kann ich nicht.

Jedenfalls stand ich nun, vom Leitsystem meines Chipboards geführt, vor der Wohnungstür und war gezwungen, mit dieser Frau über Einlaß zu verhandeln, obwohl eigentlich alles mit der Mitwohnzentrale geklärt war, Dauer wie Preis.

Zögernd öffnete sie die quietschende Tür vollends, und ich trat ein. »Es ist schon spät, ich bin müde. Gehst du bitte voran?« bat ich. Die Dielen knarrten unter ihren Schritten, ich mußte nichteinmal den WYSIWYF benutzen, um ihr zu folgen. Sie trat in ein Zimmer. Es war kühl. Sie ging um etwas herum (das mußte das Bett sein) und schloß das Fenster, dessen immer wieder überpinselte Farbschichten knirschend aneinanderrieben.

»Wenn es hell ist, siehst du von hier aus --« Erschrocken brach sie ab. »Entschuldigung«, murmelte sie. Ihre Stimme verriet mir, daß sie den Kopf abgewandt hatte.

»Schon okay«, sagte ich achselzuckend. Solche Gesten hatte ich mir erst vor kurzer Zeit bewußt angewöhnt. Bis dahin mußte ich auf andere Menschen wie eine unbeholfene Marionette gewirkt haben, steif und ohne jede Mimik.

Sie ging zur Tür. »Brauchst du noch etwas?«

»Danke. Wo ist die Toilette?«

»Wenn du hier rauskommst, gleich rechts.« Sie schloß halb die Tür, die über den zu dicken Läufer scharrte. »Gute Nacht. Du weißt ja, was du in der ersten Nacht in einem fremden Bett träumst, geht mit Sicherheit in Erfüllung.«

»Tatsächlich? Davon habe ich noch nie etwas gehört. Gute Nacht.«

Am nächsten Morgen am Frühstückstisch schlug sie raschelnd eine Zeitung auf. »Oh«, sagte sie. »Es stört dich doch nicht, wenn ich lese?«

»Aber nein, warum sollte es? Was geht den so vor sich in der Welt?«

»Scheidung!« las sie. »Steffis Fans in Tränen.« Sie legte die Zeitung beseite. »Hast du gut geschlafen?«

»Oh, danke.« Mein Rücken schmerzte, irgendwie mußte ich schief gelegen haben.

»Kein Wunder«, sagte sie. »Wir haben Alufolie unter allen Matrazen.«

»Wozu das denn?«

»Als Abschirmung gegen die Erdstrahlen natürlich.«

Erdstrahlen. Ich hasse es, wenn Leute, die nicht bis drei zählen können, behaupten, das Viereck habe eine fünfte Seite, die Mathematiker hätten sie nur noch nicht entdeckt. »Die Physiker bezeichnen Alpha-, Beta- und Gammastrahlen aus radioaktiven Bestandteilen des Bodens oder des Gesteins als Erdstrahlen«, sagte ich, »aber ich nehme an, du sprichst von den physikalisch nur durch Pendel und vor allem Wünschelruten nachweisbaren Strahlen, die von Wasseradern, Klüften und Spalten ausgehen und Gesundheitsschäden verursachen, nicht? -- So gut habe ich nun auch wieder nicht geschlafen. Ich habe schlecht geträumt. Ich träumte, ich hätte Kopfschmerzen. Ich tastete meinen Kopf ab, es fühlte sich feucht an zwischen meinen Haaren. Ich sah irgendwie von oben auf mich herunter -- im Traum konnte ich sehen -- und entdeckte einen klaffenden Spalt in meiner Schädeldecke. Darin steckte eine Scheibe Toast, weich, vollgesaugt mit Liquor. Ich zog sie mit einem Ruck heraus. Die untere Hälfte war blutgetränkt. Es tat weh, aber dieses Loch und die blutige Toastscheibe darin zu sehen war ein viel abscheulicheres Gefühl als der Schmerz.« Das war ein bißchen gelogen, denn den Traum hatte ich schon vor Wochen gehabt. Heute war ich nicht während einer REM-Phase aufgewacht und konnte mich folglich nicht daran erinnern, was ich geträumt hatte, aber die, sagen wir, wissenschaftlich unpräzise Esoterik machte mich ein wenig ungehalten. »Zu dumm, daß das, wie du sagst, in Erfüllung geht.«

»Du mußt es symbolisch sehen. Ich meine ... Kaffee?«

»Ja, danke. Muß ich? Eine symbolische Toastscheibe in meinem Kopf macht mir mehr Spaß? Ich weiß nicht.«

Sie schenkte Kaffee ein. »Nun, allzu gut habe ich in letzter Zeit auch nicht geschlafen. Die Folien sind schon ein paar Wochen alt und zu stark aufgeladen, ich muß sie bald auswechseln.«

»Danke«, sagte ich und nahm die Tasse von der Stelle, an der das Plätschern zu hören gewesen war. Der Henkel war auf der falschen Seite, und ich drehte sie um. »Vorhin hast du noch behauptet, ich hätte dank der Abschirmung gut geschlafen, jetzt ist sie zu stark -- aufgeladen? Merkwürdig.«

»Zucker? Milch?«

Ich schüttelte den Kopf. »Schwarz. Jedenfalls strahlt die Erde alles mögliche ab, Magmawärme, einfallendes Sonnen- und Mondlicht, Radioaktivität -- aber deine Erdstrahlen gibt es ebensowenig wie siebenstrahlige Schneeflocken. Oder hat die Wissenschaft die auch nur noch nicht entdeckt?«

»Ich habe anfangs selbst nicht daran geglaubt, dann habe ich es versucht, und es hat funktioniert.«

»Daß du nicht wenigstens ein bißchen daran geglaubt hast, kaufe ich dir nicht ab, denn sonst hättest du es gar nicht erst versucht. Und «funktioniert« hat es ebenso wie die Wunder in Lourdes oder Plazebos: Einbildung, Scheinwirkung. Wenn etwas eine echte Wirkung hat, sei es Gott, Ufos oder Erdstrahlen, dann muß diese Wirkung unterscheidbar, erkennbar sein, denn sonst wäre es überflüssig, sie zu postulieren.« Worauf hatte ich mich da wieder eingelassen?

»Du glaubst also nur Dinge, die du ... die du --«

»Die ich sehe, wolltest du sagen? Das war wohl nichts. Ich habe die Sonne nie gesehen, und auch den Schiefen Turm von Pisa. Radioaktive Strahlung wirkt selbst, wenn du nicht daran glaubst, ja sogar, wenn du nichts davon weißt. Die Schwerkraft kann ich nicht sehen, aber ich kann ihre Wirkung wahrnehmen. Der Apfel fällt vom Baum. Daran können natürlich auch telekinetisch begabte Venusianer schuld sein oder kleine, unsichtbare Elfen, die ihn zu Boden schubsen, aber das ist ein anderes Problem.« Meine Tasse war noch nicht ganz leer, aber ich griff an die Stelle, an der Hannelore die Kanne auf das Stövchen gesetzt hatte. »Ich darf doch?« Sie nickte, nehme ich an, denn das »Sicher« kam reichlich verspätet. Ich öffnete halb den Schraubverschluß, goß mit einer Hand ein, bis die Wärme, die die steigende heiße Flüssigkeit abstrahlte, den Zeigefinger meiner anderen, den ich unauffällig in die Tasse hielt, erreichte.

»Ich glaube jedenfalls daran, und bei mir funktioniert es. Es kann schließlich nichts schaden, oder?«

»Glaubst du? Immerhin behindert die Folie die Luftzirkulation -- was denkst du, weshalb Betten gewöhnlich auf Beinen stehen -- damit du tiefer fällst? Vom Abfall, vom Energieaufwand zur Herstellung der Metallfolie ganz zu schweigen. Und wenn jemand wirklich krank ist und sich auf Alufolie oder Gebete verläßt, statt sich behandeln zu lassen ...« Ich machte eine Kunstpause. »Aber sprechen wir doch von etwas anderem. Was tust du beruflich? Ganzheitliche Psycho-Farbberatung, nehme ich an? -- Dabei fällt mir ein: Kennst du SIRDS?«

»Wen?«

»Das heißt nein, nehme ich an. SIRDS, Autosterogramme (i) ... waren Mitte der neunziger Jahre populär, sind inzwischen aber in Vergessenheit geraten, schließlich ist Stereovision heute alltäglich. Wirklich schade, du hast noch nie davon gehört?«

»Nein, was soll das denn sein?«

»Nun, ich fürchte, ich muß etwas ausholen. Bilder sind gewöhnlich zweidimensional, räumliche Tiefenwahrnehmung wird ermöglicht durch Perspektive, Schatten, Farben und Intensitäten, Größenverhältnisse ... bei drei Dimensionen kommen zwei Effekte hinzu. Erstens die Konvergenz der Augen, also die Wahrnehmung zweier unterschiedlicher Bilder.« Ich hielt einen Zeigefinger hoch. »Sieh mir ins Gesicht und kneife anwechselnd das linke und das rechte Auge zu. Der Finger müßte hin- und herspringen, richtig?«

»Natürlich.«

»Das zweite ist die entfernungsabhängige Akkommodation -- Nah- und Ferneinstellung der Augenlinse durch Spannen und Entspannen des Ziliarmuskels. Wenn du mir ins Gesicht siehst, ist der Finger unscharf, nicht? Jetzt sieh den Finger an: mein Gesicht verschwimmt.«

»Das ist doch logisch. Worauf willst du hinaus?«

»Augenblick, dazu komme ich gleich. Du -- dein Gehirn -- kann die Entfernung des betrachteten Punkts abschätzen, indem es die Ziliarmuskelspannung sozusagen mißt. Das Verschmelzen zweier Halbbilder zu einem räumlichen Eindruck wird Stereopsie genannt. Sie erfordert getrennte Bilder für jedes Auge, Stereogramme eben, das heißt, es werden gewöhnlich Hilfsmittel benötigt, ein Stereoskop, eine Polarisations- oder eine Rot-Grün-Brille beispielsweise, um die beiden Teilbilder dem entsprechenden Auge zuzuordnen. Du hast sicher schon Bilder aus dem letzten Jahrhundert gesehen von Leuten im Kino, die 3D-Brillen trugen.«

»Sicher; sie wirkten so glotzäugig, als wären sie selbst einem der Horrorfilme entstiegen, die sie da ansahen.«

»Schön. Julesz und Miller erkannten nun 1962, daß für die Tiefenwahrnehmung Stereopsie ohne weitere Hinweise wie Perspektive usw. völlig ausreicht und zeigten dies durch Zufallspunktmuster zur Betrachtung im Stereoskop. Tyler und Clarke schließlich vereinigten 1990 Zufallspunkt-Stereogrammpaare zu einem Bild: Die Single Image Random Dot Stereograms waren entwickelt. Dabei sind die Punkte in einem einzigen Bild so angeordnet, daß jeder gleichzeitig für beide Halbbilder verwendet wird. Das Berechnungsverfahren ist im Prinzip denkbar einfach: Zwei Punkte an den Stellen der Bildebene, die beim Betrachten eines Punkts auf einem Objekt die «Sehstrahlen« beider Augen schneiden, müssen zwangsläufig die gleiche Farbe haben. Die Entfernungsinformation bleibt, da der Abstand dieser Schnittpunkte sich mit der Entfernung des Objektpunkts ändert, erhalten. Die Gleichungen hierfür ...« Hannelore schwieg, doch ich bemerkte, daß sie unruhig wurde. Vermutlich hörte sie überhaupt nicht mehr zu, sondern ließ, was ich sagte, einfach an sich vorbeirauschen. Vielleicht hätte ich einige Begriffe wie «Aura« oder «kosmische Energie« einfließen lassen sollen, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Nun, die Details würden hier zu weit führen. Jedenfalls müssen die Punkte des Bilds nur noch pseudozufällig eingefärbt werden (wobei der Zufall eingeschränkt ist durch die Zwangsbedingungen gleicher Farbe, die wie oben beschrieben für jeden Punkt des abzubildenden Objekts ermittelt wurden), und ein SIRDS ist entstanden. Natürlich können auch vorgegebene Muster den Zufall beeinflussen, dann wird es einfach SIS genannt, Single Image Stereogram

»Und was soll das ganze?«

»Das war vielleicht ein bißchen zu abstrakt, oder? Warte ...« Ich holte meine Chipboard, klappte den Braille-Schirm zur Seite und startete die SIRDS-Demo.

»Ich sehe nur ein gesprenkeltes Bild«, sagte Hannelore.

»Es ist nicht ganz einfach, in einem SIRDS mehr zu erkennen. Ihr Sehenden seid, was das angeht, ebenso blind wie ich. Du mußt einen Punkt fokussieren, der dahinter liegt, etwa im gleichen Abstand wie der zwischen deiner Nasenwurzel und dem Bild. Stell dir vor, der Bildschirm wäre nicht da und du würdest jemanden ansehen, der dir gegenübersitzt. Hast du's? Jetzt mußt du auf das Bild selbst akkommodieren, also versuchen, es scharf zu sehen, aber ohne die Blickrichtung zu verändern. Ich weiß, es ist nicht leicht. Wenn du es erst einmal geschafft hast, das Bild räumlich zu sehen, ist der Effekt allerdings frappierend, die Objekte scheinen greifbar aus der Bildfläche zu ragen. Alkohol oder andere Drogen sollen dabei nützlich sein, wie bei religiösen Erscheinungen -- nur sind die SIRDS wirklich und nachweisbar vorhanden. Das entspricht natürlich nicht dem üblichen Sehen, es erfordert einige Übung. Manchmal Minuten oder Stunden, vielleicht sogar --«

Hannelore schrie auf.

[...]

Februar 1994