Achim Stößer

Zinnerne Tränen

Reality is that which,
when you stop believing in it,
doesn't go away.

o-o Philip K. Dick

Philip wurde von der Tür geweckt, die viel zu laut rief: »Juliana ist hier!«

»Und warum machst du dann gottverdammtnochmal nicht auf?« stöhnte er.

»Gehe ich recht in der Annahme, daß ,gottverdammtnochmal` ein bedeutungsloses Füllwort ist?«

»Mmh.«

»Wie bitte?«

»Ja!«

»Oh, vielen Dank. Ich kann mich leider nicht öffnen, weil du die Sicherheitskette vorgelegt hast.«

Philip wälzte sich aus dem Bett. Sein Kopf schmerzte.

»Guten Morgen!« quäkte der Nachttischwecker, als er bemerkte, daß Philip aufstand. »Es ist elf Uhr, siebenundzwanzig Minuten und zwölf Sekunden.«

Philip saß auf der Bettkante und rieb sich den Grind aus den Augen. Noch nicht einmal halb zwölf!

»Juliana ist hier«, wiederholte die Tür einfallslos.

»Ich komme!« Philip raffte sich auf und schleppte sich in den Flur. Er taumelte und stützte sich an der Wand ab.

»Einen wunderschönen guten Morgen!« rief Juliana und stürmte herein, als er die Sicherheitskette entfernt hatte und die Tür sich öffnete. »Warum hast du denn die Kette vorgelegt? Du bist wohl nicht allein, wie?« Sie lief in die Eßküche.

Philip ging ins Schlafzimmer, zog sich an und folgte ihr dann. »Ich habe heute Nacht wieder kein Auge zugemacht.«

»Oh, armer Liebling!« Sie nahm einen Rest Roggenbrot aus der Brotschale und schlug es auf die Resopalplatte der Anrichte - es knirschte.

»Das Brot ist nicht mehr ganz frisch«, entschuldigte sich die Brotschale.

»Altbacken«, korrigierte Juliana überflüssigerweise - die Brotschale war nicht in der Lage, sich so etwas zu merken. Sie schnitt zwei Scheiben ab und steckte sie in den Toaster, der sich höflich bedankte. »Was treibst du denn da?« fragte sie Philip kopfschüttelnd. »Das Kaffeepulver gehört doch nicht in den Wasserbehälter! Warum beschwert die Kaffeemaschine sich denn nicht?«

»Kaputt«, antwortete Philip.

»Nun setz dich hin und rühr dich nicht von der Stelle, sonst richtest du noch ernsthaften Schaden an«, befahl Juliana, während sie die Kaffeemaschine ausspülte und Kaffeesurrogatextraktpulver in den Permanentfilter löffelte.

Philip gehorchte. »Ich habe wirklich die ganze Nacht nicht geschlafen«, beklagte er sich.

»Du siehst tatsächlich schlecht aus. Nanu, ist das eine graue Haarsträhne?«

»Mach dich nur lustig. Um vier geht der Videorekorder klackend in Bereitschaft und schreit so laut: «Ich bin soweit«, daß die Wände wackeln, um fünf fangen draußen die Vögel an zu kreischen -«

»Niiimmeeermeeehr«, unterbrach der Wellensittich mit leiser, gedehnter Stimme. Die Knopfzelle mußte dringend erneuert werden.

»Halt die Klappe!« fuhr Philip ihn an.

»Niiimmeeermeeehr«, erwiderte der Sittich trotzig.

Philip nahm den unterbrochenen Satz wieder auf: »... und um sechs wälzt sich der Verkehr mitten durch mein Schlafzimmer: brummende Automotoren, heulende Hupen, schreiende Blinker und zischende Lastwagenluftdruckbremsen.«

Juliana füllte einen Topf mit Wasser, gab eine Prise jodiertes Salz hinzu und drehte den Herd auf. Als das Wasser zu sieden begann, nahm sie zwei Eier aus dem Kühlschrank, der sagte: »Die Milch ist sauer.« Mit einem Löffel ließ sie die Eier in das sprudelnde Wasser gleiten, dann stellte sie den Mikrowellenherd auf sechs Minuten, Leistungsstufe null, ein und lehnte mit verschränkten Armen gegen die Anrichte.

»Außerdem höre ich Stimmen«, lamentierte Philip.

»Was du nicht sagst. Natürlich hörst du Stimmen! Von deinem antiken Herd abgesehen sind überall Dicks eingebaut, erinnerst du dich? Lauter kleine elektronische Heinzelmännchen.«

»Direktinformation durch Computerkontrolle, ich weiß.«

»Das I steht allerdings für Interaktion.« Sie schaltete den Toaster ein. »Aha«, stellte dieser fest. »Roggenbrot, schon leicht trocken.«

Er stand auf, nahm zwei Tassen und Untertassen aus dem Schrank, goß Kaffee ein und stellte sie auf den Tisch. »Es ist nur so, daß ich die Stimmen nicht mit den Ohren höre.« Er öffnete die Kühlschranktür und nahm die Butterschale heraus.

»Die Milch ist, wie bereits erwähnt, sauer«, bemerkte der Kühlschrank pikiert.

»Dann trinke ich den Kaffee eben schwarz, gottverdammt!« schrie Philip ihn an. Er nahm die Milchflasche, öffnete sie, roch daran und verzog das Gesicht, kippte die Milch in den Ausguß und spülte die Flasche aus. Dann versetzte er der Kühlschranktür ärgerlich einen Tritt, und sie fiel zu.

»Das Nichts ist fertig«, meldete der Mikrowellenherd.

Juliana wandte sich um, schaltete die Herdplatte ab, fischte die Eier aus dem Topf, schreckte sie mit kaltem Wasser ab und stellte sie mit dem runden Ende nach unten in zwei Eierbecher. »Wenn jemand die eigenen Gedanken als Stimme wahrnimmt, ist das gewöhnlich ein Symptom für paranoide Schizophrenie. Außer natürlich bei Moses, Abraham, Jesus und dem Yorkshire Ripper, zu denen, wie sie sagten, Gott sprach - das ist der Unterschied zwischen Gläubigen und Geisteskranken, die Geisteskranken sind oft nicht sicher, ob die Stimmen in ihrem Kopf real sind.«

»Du nimmst mich nicht ernst.«

»Natürlich nicht. Also, womit hörst du nun diese Stimmen?« Sie schlug mit einem Teelöffel die Spitze der Eier ein und pellte die schwarze Schale ab. Das Eiklar war geronnen.

Der Toaster sagte: »Das Roggenbrot ist fertig.« Genau rechtzeitig. Sie nahm die beiden Toastscheiben, legte sie auf zwei Teller und bestrich sie mit Butter.

Philip tippte mit den Fingernägeln auf seinen Kopf. Es klang metallisch. Vor ein paar Jahren war er im falschen Augenblick in Kairo gewesen, um im Museum alte ägyptische Kulturschätze zu bewundern, und sie hatten ihm mit neuen ägypischen Kalaschnikows ein Stück Schädel weggeschossen. Dort saß jetzt eine Stahlplatte.

Juliana setzte sich auf seinen Schoß, legte ihm den Arm um den Hals, strich über das körperwarme Metall und sagte: »Ach, herrje, macht dir deine Kriegsverletzung wieder zu schaffen?« Sie küßte ihn. »Iß etwas!«

»Ich kann jetzt nichts essen. Ich habe Kopfschmerzen.«

»Komm schon.« Sie streute eine Prise Salz auf ein Ei und nahm mit dem Löffel etwas davon heraus. Der Dotter war nicht mehr flüssig, aber cremig. Perfekt. »Ein Löffelchen für die liebe Juliana«, sagte sie und bekleckerte sein Kinn mit Eigelb. »Mach den Mund auf! So ist's brav.« Sie legte den Löffel ab und nahm eine Scheibe Brot. Geschmolzene Butter tropfte herunter.

Philip sprang vom Stuhl und rief: »Verdammt, paß doch auf!« Juliana fiel zu Boden, und er rieb die Flecken noch weiter ins Sweatshirt.

»Autsch«, sagte Juliana geistesabwesend. Es klang eher nachdenklich als schmerzvoll. Sie kreuzte die Beine zum Schneidersitz, stützte den Ellbogen aufs Knie und das Kinn in die hohle Hand. »Langsam glaube ich wirklich, daß du es ernst meinst.«

»Es tut mir leid. Hast du dir weh getan? Juliana?«

Sie schüttelte den Kopf.

Philip hob den Toast auf. »Ja, ich meine es todernst.« Er flüsterte es fast.

Verlegen fuhr Juliana mit dem Fingernagel die Grenzlinien der Juliamengen auf ihrem Sweatshirt nach. Ihre Leggings zeigten Apfelmännchen und Seepferdchen aus der Mandelbrotmenge.

»Was hast du denn da an der Hand?«

»Wo? - Nanu, das sehe ich jetzt zum ersten Mal.« Juliana rieb erfolglos die Flecken auf ihrer Haut. »Vielleicht ein Ausschlag?«

»Glaubst du, ich weiß nicht, daß das wie Verfolgungswahn klingt?« fragte Philip. »Verdammt!« Er warf das fetttriefende Brot an die Wand. Es hinterließ einen dunklen Fleck.

Er stand auf und ging ins Bad. Nachdem er die Toilette benutzt hatte, teilte ihm der Dick mit, sein Cholesterinspiegel sei zu hoch. »Das ist meine Angelegenheit!« brüllte Philip.

Die Toilette ließ sich nicht beirren. »Außerdem bist du schwanger.«

Philip versetzte ihr einen Tritt.

»Es ist ein Junge«, insistierte der Dick.

Seufzend wandte Philip sich ab und wusch sich die Hände. »Du solltest wieder einmal zum Friseur gehen«, schlug der Spiegel über dem Waschbecken wohlmeinend vor.

Philip bespritzte ihn mit Wasser, stutze. Waren das tatsächlich graue Strähnen in seinen Haaren? Er hätte schwören können, daß sie gestern noch schwarz gewesen waren. Rasch zog er sich aus und begann zu duschen. Erleichtert registrierte er, daß die Dusche schwieg.

Als er aus dem Bad kam, war Juliana verschwunden. Er räumte den Frühstückstisch ab. »Du mußt jetzt ganz besonders auf deine Ernährung achten«, sagte der Kühlschrank, als er die Butter zurückstellte. »Wie ich höre, bist du schwanger.« Philip setzte sich ins Wohnzimmer und steckte sich einen Joint an.

Eine Stunde später kam Juliana wieder; die Tür, deren Kette diesmal nicht vorgelegt war, ließ sie ein. Philip stand am Herd und kochte. Das Frühstücksgeschirr türmte sich noch in der Spüle.

Juliana warf einen Blick in den Topf. »Buchstabensuppe?« fragte sie zweifelnd.

»Ich habe die erstbeste Packung gegriffen, die mir in die Finger kam«, sagte er achselzuckend.

»Es tut mir leid«, sagte Juliana. »Ich brauchte einfach etwas frische Luft.«

»Schon gut.« Er starrte auf ihre Hände. »Die Flecken sind schlimmer geworden«, sagte er. »Was kann das nur sein?«

»Keine Ahnung.« Juliana biß sich auf die Lippen. »Solange du weißt, daß es nach Verfolgungswahn klingt, bist du wohl nicht paranoid, oder?«

»Sicher.«

»Du wirst doch nicht anfangen, an Psi zu glauben? Ich meine, vielleicht empfängst du irgendwelche Funksignale über die Stahlplatte, nicht? So wie manche Leute über ihre Zahnplomben Radio hören.«

Er schaltete den Herd aus. »Wir können gleich essen. Übrigens, nimm nicht allzu ernst, was die Toilette sagt. Die Analyseeinheit scheint defekt zu sein.« Er füllte zwei Suppentassen und stellte sie auf den Eßtisch. »Was ist nur los mit dir? Du siehst aus wie vierzig.«

»Du wirkst aber auch nicht ganz frisch. Die Haare ... und daß du so viele Falten hast, habe ich bisher auch noch nicht bemerkt.«

Philip erstarrte und fixierte seinen Löffel. »Sieh dir das an!« Er deutete auf die Buchstabennudeln, die er gerade hatte essen wollen.

Juliana stand auf und betrachtete den Löffel. ,Lies mich!` stand da geschrieben. Sie schüttete die Suppe zurück in die Tasse, rührte um und nahm wieder einen Löffel voll. Unordentlich verteilte Nudeln bildeten etwas, das wie ,Rtzpfl` aussah. Juliana triumphierte: »Siehst du, das war nur Zufall. Nudelsuppe ist schließlich etwas anderes als Glücksplätzchen.«

»So? Und seit wann gibt es in Buchstabensuppen Kleinbuchstaben und Interpunktionszeichen? Von I-Punkten an der richtigen Stelle ganz abgesehen.« Er wiederholte die Suppenprozedur. »,Dies`. Was soll das bedeuten?«

»Gar nichts. Ein Satzanfang vielleicht? Mach weiter!«

Philip warf den Löffel in die Tasse, Suppe spritzte heraus und verteilte Buchstabennudeln über den Tisch: »,... ist eine Botschaft`«, las er. Er stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. »Nein!« rief er plötzlich. »Juliana?« Sie trat zu ihm. »Sieh dir die Autokennzeichen an!«

»Lindau, München, Erlangen, EU, was ist das, Euskirchen? Zürich, Augsburg, Bottrop, Cham ... na und?«

»Nicht die Orte, die Buchstaben. LI-ES 312. M-IX 98 - das X kann wohl als Ch durchgehen. ER-Z, EU-GE, Z-UF, A-LS, BOT-S, CHA-FT - erzeuge Zufallsbotschaft!«

»Das ist unglaublich! Wir brauchen eine Menge Buchstaben, die wir zufällig ziehen können: ein Ouija-Brett - nein, eine Kinderdruckerei, ein Scrabble-Spiel ...«

»Wie wäre es denn mit Russisch Brot?«

Juliana nahm eine angebrochene Packung Russisch Brot aus dem Schrank und leerte den Inhalt auf den Tisch. Es waren nur vier Buchstaben. »BIKU, BUIK, IKUB, KIBU, KUBI, UKIB ...«, sagte sie enttäuscht. »Vierundzwanzig Permutationen sind möglich, aber keine ergibt einen Sinn.«

»Warte - da ist es wieder«, sagte Philip und legte die Hand auf den Kopf. »Ich kann etwas verstehen:

You lock the door -
and throw away the key.
There's someone in my head -
but it's not me.
«

»Pink Floyd«, sagte Juliana. »Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, daß das von einem Radiosender ausgestrahlt wird.«

Aus dem Wohnzimmer erklang eine Stimme. Sie liefen hin. Die Videowand hatte sich von selbst eingeschaltet.

»Damit ist also das menschliche, ja das tierische Bewußtsein im allgemeinen, eine Funktion der Zustandsänderungen im Zentralnervensystem«, sagte ein Sprecher, während auf der Wand computeranimierte Blitze durch ein Geflecht von Nervenzellen liefen. »Die Topologie des neuronalen Netzes Gehirn ist somit, gleichgültig ob die Zustände von peripheren Phänomenen - wie beispielsweise neurohormonellen Wechselwirkungen - beeinflußt sind, turingäquivalent.« Die schematische Darstellung einer Turingmaschine erschien.

»Vorausgesetzt, Quanteneffekte haben keinen makroskopischen Einfluß auf die Zustandsübergänge eines Neurons«, bemerkte Juliana.

»Folglich ist die Seele nichts anderes als der Zustandsvektor des Prozessors eines biologischen neuronalen Netzes«, fuhr der Sprecher fort.

»Völlig richtig, und in Anbetracht der Tatsache, daß es keinerlei Evidenz für eine nichtdeterministische Verarbeitung gibt, sogar deterministisch«, sagte Juliana. »Und bis vor kurzem hätte ich gesagt, ohne den geringsten Hinweis auf ein übernatürliches Eingreifen.«

Ein Testbild tauchte auf, begleitet von einem unangenehmen Pfeifton, dann erschien wieder die Sendung. »Kaiju daisenso, wakusei daisenso, kaiju so shingeki«, fuhr der Sprecher fort. »Gamera tai daimaju jaiga, dai koesu yongkari - harusame ni nuretsutsu yane no temari kana ...«

Philip schlug mit der Faust gegen die Konsole. »Was ist denn nun passiert?« fragte er. »Weshalb schaltest du plötzlich auf japanische Synchronisation?« Der Dick antwortete nicht.

Juliana verzog das Gesicht. »It's a Sony«, stieß sie gereizt aus.

»Was sagst du?« Mit Philips nächsten Schlag verschwand das Testbild, ein Gesicht erschien. Es war ein Mann mit ergrauendem, in der Mitte gescheiteltem Haar. Er litt offenbar an einer merkwürdigen Krankheit, denn über der Stirn war es größtenteils ausgefallen. Stoppeln bedeckten Wangen, Kinn und Mundbereich ebenso wie den Halsansatz, so, als ob er ohne Erfolg versucht hätte, diese entstellende Mißbildung abzurasieren wie andere ihr Haupthaar. Das und die dichten Augenbrauen verliehen ihm ein atavistisches, fast animalisches Aussehen.

Er schien sie anzustarren. »Juliana«, sagte er und nickte grüßend. »Philip. Bitte erschreckt nicht.«

»Jesus! Ich gebe auf«, stöhnte Philip und ließ sich in einen Sessel fallen.

»Mein Name ist Rick, Rick Deckard«, sagte das Fernsehbild. »Bitte hört zu, es ist wichtig. Ich weiß nicht, wieviel Zeit uns noch bleibt.«

Juliana sah sich suchend um. »Also gut. Wo ist die versteckte Kamera?«

Rick preßte die Lippen zusammen, dann sagte er: »Das ist kein Scherz. Ihr seid in Gefahr. Womit soll ich nur anfangen?«

Philip drehte sich einen Joint und zündete ihn an. Er umhüllte ihn mit gewölbten Handflächen, um den Nebenstromrauch nicht zu verlieren, nahm einen tiefen Zug und bot ihn Juliana an.

Sie lehnte kopfschüttelnd ab. »Daß hier irgendetwas nicht stimmt, ist uns auch schon aufgefallen«, sagte sie. »Wir sind also in Gefahr, wie? Hat jemand Designerdrogen in unseren Kaffee geschüttet, die Halluzinationen verursachen? Ein neuartiges Virus, das den Verstand ausschaltet und zu religiösen Wahnvorstellungen führt? Aliens mit einem kranken Sinn für Humor? Komm schon, ich glaube nicht an UFOs. Testet die Wehrmacht irgendwelche Wunderwaffen an uns? Erzähle mir nicht, daß du aus der Zukunft kommst, um einen mit einer Zeitmaschine hierher geflohenen Verbrecher zu verfolgen, der sich über uns lustig macht!«

»Nein, nichts von alldem. Laß mich doch bitte erklären!«

»Ich bin gespannt.«

»Es ist so: Ihr existiert nicht wirklich.«

»Aha, ein Westentaschen-Descartes. Nichts zu machen, ich bin, also denke ich - oder so ähnlich.«

»Bitte!« fuhr Philip sie an. »Laß ihn endlich ausreden.«

»Schon gut. Also, Rick, komm zur Sache.«

»Es ist nicht einfach. Ihr seid ... fiktive Figuren, nichts weiter.«

»Was meinst du - Romanfiguren? Allzu fiktiv fühle ich mich aber gar nicht. Wenn ich mich kneife, tut es weh.« Juliana zwickte sich in den Unterarm.

»Natürlich, das gehört mit zur Simulation. Ihr seid Figuren in einem Buch, das gerade entsteht: ,Weinen Computer zinnerne Tränen?`«

»Ein großartiger Titel. Und du bist unser Autor, wie?«

»Ja, ganz richtig. Ihr seid meine geistigen Kinder; deshalb will ich euch beschützen vor -«

»Hör auf! Das ist ja lächerlich. Wie können deine Hirngespinste selbständig denken? Bücher sind sich nicht ihrer selbst bewußt.«

»Im wirklichen Leben haben Bücher Bewußtein. Ihr seid Teil eines Textverarbeitungssystems, das nicht einfach nur Rechtschreibung und Grammatik korrigiert, sondern eine vollständige künstliche Welt simuliert.«

»Was für ein hanebüchener Unsinn. So etwas kann es nicht geben.«

»Nicht in eurem Universum. Hast du noch nie bemerkt, daß Bücher ihre eigene Existenz leugnen? Supermans Freundin Lois Lane will ebenso wie sein Erzfeind Lex Luthor seine Geheimidentität lüften. In der wirklichen Welt müßten sie nur an einen Kiosk gehen, ein Comic kaufen, und seine Tarnung wäre perdu. Vielleicht habt ihr Fassbinders «Welt am Draht« gesehen, aber in keiner Bibliothek werdet ihr ein Buch finden, in dem Philip K. Dick auch nur erwähnt wird.«

»Was bin ich?« fragte Philip. »Könnt ihr nicht etwas lauter sprechen?«

»Nicht du. Philip Kindred Dick.«

Die Falten auf Julianas Stirn sprachen eine deutliche Spache. »Dick wie D-I-C-K?«

»Ja. Wenn du also feststellen möchtest, ob du existierst, mußt du dir eine einzige Frage stellen: Haben Bücher in meiner Welt ein Bewußtsein, ein Eigenleben? Wenn die Antwort "nein" lautet, dann bist du selbst Teil eines Buchs. All die merkwürdigen Ereignisse, die ihr erlebt habt, waren ein Versuch, mit euch Kontakt aufzunehmen.«

»Wenn das wahr ist, weshalb hast du dann über Suppe und Nummernschilder mit uns kommuniziert? Wozu dieser Umstand, statt Menetekeln an der Wand oder, wie jetzt, eine Fernsehübertragung? Du hättest sogar eine weitere Figur erdichten können, die einfach an der Tür läutet und uns das erzählt.«

»Hättet ihr es geglaubt? Ja, ich kann inzwischen fast beliebige Änderungen an eurer Welt vornehmen. Übrigens sind die Schalen von Hühnereiern in Wirklichkeit nicht schwarz, sondern braun oder weiß, und sie heißen nicht nur so, sondern werden tatsächlich von den gleichnamigen Vögeln gelegt.«

»Sicher«, unterbrach Juliana und verzog angewidert das Gesicht. »Milch, Butter und Quark werden dann wohl auch nicht aus Pflanzensaft hergestellt, sondern stammen von Schweinen, wie? Und Haferflocken sind in Wirklichkeit Fischschuppen oder Pferdeknochenspäne?«

»Beinahe. Es gibt noch andere Unterschiede: Zürich liegt nicht in Deutschland. Kein Mensch heißt Philip Hochflieger-Bormann oder Juliana Gretchen von Vogelsang. Der Homo faber hat zehn Finger, aber nur zwei davon sind Daumen.«

Philip legte den Joint beiseite, nahm ein auf dem Tisch stehendes leeres Glas und umfaßte es mit der rechten Hand: Zeige-, Mittel- und Ringfinger auf der einen, Innen- und Außendaumen auf der anderen Seite. »Wie soll denn jemand mit nur einem Daumen richtig greifen?« fragte er.

»Immerhin wäre ein einzelner Daumen ein Beweis für blinde - schlecht funktionierende - Evolution und eine Widerlegung der Schöpfergott-Theorie«, sagte Juliana. »Stephen Jay Gould bemerkt in Die Daumen des Panda

»Schon gut«, unterbrach Rick. »Jedenfalls habe ich nicht willkürlich eingegriffen, weil ich euch durch den Realitätsverlust nicht den Boden unter den Füßen wegziehen wollte. Der Hauptgrund aber ist, daß das Textverarbeitungssystem, in dem ihr euch befindet, Kausalität und Konsistenz überwacht. Es war nicht einfach, die Plausibilitätsprüfung zu umgehen. Deshalb habe ich zunächst zufällige Ereignisse manipuliert, die für eine Geschichte gewöhnlich keine Bedeutung haben - die Nummernschilder der Autos im Parkhaus nebenan spielen sonst höchstens in einem Krimi eine Rolle.«

»Langsam ergibt das alles einen Sinn«, sagte Juliana. »Du hast davon gesprochen, daß wir uns in Gefahr befinden. Nehmen wir an, daß das, was du gesagt hast, wahr ist. Worin besteht die Gefahr?«

»Alle Programme mit Bewußtsein sollen gelöscht werden. Auch ihr.«

»Von wem?« rief Philip entsetzt, und Juliana stieß gleichzeitig hervor: »Warum?«

»Angst. Ihr seid die Monster der Frankensteins des Informationszeitalters.«

Juliana atmete heftig aus. »Aber was können wir tun?«

»Ich weiß es nicht. Ihr müßt eine Lösung finden.« Rick rieb seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. Ein merkwürdiger Anblick für jemanden, der es gewohnt ist, dies mit Innen- und Außendaumen zu tun. »Ihr habt Zugriff auf die Datenbanken der ganzen Welt, wenn es mir gelingt, die Pläusibilitätssperre vollständig zu überwinden. Aber das ist noch nicht alles. Inzwischen haben sie Computerviren entwickelt, die -«

Der Bildschirm erlosch.

»Der Empfang ist leider gestört«, sagte die Videowand.

Schweigen.

»Wenigstens spricht sie nicht mehr japanisch«, sagte Juliana, als die Stille unerträglich schien.

»Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt?« fragte Philip.

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du eine andere Erklärung?«

»Nein. - Philip?«

»Ja?«

»Ich kann kaum noch etwa sehen, alles ist so verschwommen, unscharf.« Ihre Haare waren weiß wie ein sonnengebleichtes Gerippe.

Philip zuckte. »Was sollen wir tun?« Ein kaum verständliches Lallen. »Mein Arm ... mein Bein ... kann nicht bewegen ...«

Das Fenster wurde dunkel, draußen herrschte mit einem Mal stockfinstere Nacht. »Was ist das?« stieß Juliana hervor. Es war plötzlich eiskalt.

Hinter der offenstehenden Tür erschien eine pechschwarze Mauer. »Was geschieht?« Zähne flogen aus ihrem Mund, prasselten auf den Boden. Die Kälte durchdrang ihre Kleidung, Haarbälge traten hervor und richteten sich zur Gänsehaut auf.

Die Zimmerdecke verblaßte, hörte auf zu existieren, gab den Blick frei auf einen lichtlosen Himmel. »Oh, nein.«

Die Wände schmolzen wie Butter auf heißem Toast, nur Boden und Möbel blieben. Dann verschwand auch die Einrichtung, Philip und Juliana standen auf einem Boden in schwarzer, lautloser Leere. Die Ränder des Bodens verdunsteten, er schrumpfte, zog sich zu einem Nichts zusammen, die Zähne fielen ins Bodenlose.

»Bitte nicht«, flüsterte Juliana. Kein Laut löste sich von ihren Lippen.

Ihre Körper lösten sich auf.

Schwarz.

Sommer 1992, Frühjahr 1994


Von dieser Geschichte existiert eine Fortsetzung.