Achim Stößer

Amadeus

Am meisten störte mich an der Eurographics, einer der wichtigsten Computergraphikveranstaltungen der Welt, die im September '91 in Wien stattfand, daß ich, der ich überhaupt keine Beziehung zur Musik habe, auf Schritt und Tritt mit jenem Komponisten konfrontiert wurde, dessen Todestag sich zum zweihundertsten Mal jährte. Was ich nicht ahnte, war, daß ich kurz darauf Mozart persönlich kennenlernen würde.

Die Symposien waren hochinteressant; viele jener Leute, deren Name uns mit Ehrfurcht erfüllt - Encarnação, Glassner, Greenberg, Hagen, Mäntylä, Müller, Peitgen, Saupe - waren da, selbst Amerikaner trauten sich wieder, anders als im Frühjahr bei der Imagina in Monte Carlo, ein Flugzeug zu besteigen, Menschen, deren Nachname allein schon genügt, um sie zu identifizieren, wie Jung, Monet, Pythagoras, von Weizsäcker (schön, von Weizsäckers Bruder ist ebenfalls bekannt, aber Politiker zählen nicht).

Gerade war ich unterwegs zu dem abscheulichen Bau, in dem die Tagung stattfand, der Hofburg, wohl eine Residenz des letzten österreich-ungarischen Kaisers, als es geschah.

Der Zeitrutsch erschien wie ein Filmschnitt: Eben noch war ich, von der Morgensonne geblendet, über staubtrockenen Asphalt gegangen, in einer mondrianfarbigen Welt voller lärmender Autos, Werbetafeln, Verkehrsampeln, Hinweisschilder, da stolperte ich plötzlich, denn ohne einen spürbaren Veränderungsprozeß bedeckten Wolken die Sonne, die zum westlichen Horizont gesprungen war, befand sich unter meinen Füßen glitschig-nasses Kopfsteinpflaster, als ob es vor wenigen Augenblicken geregnet hätte, ersetzte Gestank faulenden Abfalls und menschlicher Exkremente die Auspuffgase und Benzindämpfe, schrumpften die Häuser, wurden schief und unregelmäßig, waren die Farben einem allgegenwärtigen, schmutzigen Braun gewichen, selbst meine Kleidung war, wie ich bemerkte, von einer graubraunen Rußschicht bedeckt.

Niemandem schien etwas aufgefallen zu sein, die Passanten gingen achtlos weiter. Die Stille war befremdlich; irgendwo klapperten Pferdehufe über das Pflaster, rasselten die Räder einer Droschke, greinte ein Säugling, zankten sich keifend zwei Frauen, hämmerte jemand monoton Metall - weiter war nichts zu hören.

Ziellos irrte ich durch dunkle, enge Gassen und versuchte, zu begreifen was geschehen war. Insgesamt erdachte ich neunundzwanzig Möglichkeiten - Traum, Wahnsinn, Drogen, Ratte-im-Labyrinth-Experiment Außerirdischer, Seelenwanderung (warum nicht rückwärts?), göttlicher Scherz, und, und, und ... - von denen mir eine weniger behagte und unwahrscheinlicher schien als die andere. So entschied ich mich schließlich dafür, den Zeitrutsch als Arbeitshypothese zu akzeptieren, auch wenn die Physiker nachgewiesen zu haben glaubten, daß eine Zeitreise - zumindest in die Vergangenheit - unmöglich ist. Aber das hatten sie irgendwann auch vom Schwerer-als-Luft-Flug behauptet.

Somit befand ich mich - wie ich später nach und nach herausfand - im Wien des Jahres 1790, mehr als zweihundert Jahre vor meiner Zeit. Obwohl sich Erde, Sonnensystem und Galaxis weiterbewegt haben mußten, war ich scheinbar am gleichen Ort geblieben. Die Gesetzmäßigkeit, auf der das beruht, ist mir unklar, es mag mit der Massenanziehung zusammenhängen.

Langsam wurde es kälter, und ich begann, mich zu einem Gasthaus durchzufragen, in dem Zimmer vermietet wurden. An Wörter wie Kren, Schlagobers, Palatschinken, Fußgeher, Jänner, heuer hatte ich mich schon gewöhnt, doch der Wiener Dialekt des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts bereitete mir einige Schwierigkeiten.

Als ich endlich am Ziel angekommen war, bestand der Wirt auf Vorauszahlung (nach meinem Namen befragt, setzte ich diejenigen der beiden einzigen Österreicher, die mir einfielen, zusammen, und nannte mich Adolf Waldheim, ohne zu berücksichtigen, daß mein Akzent mich sofort als Ausländer verraten mußte und so sein Mißtrauen weckte), doch natürlich hatte ich kein Geld. Zwar besaß ich etwa zweihundert Schilling, doch mit moderner Währung, falls Geldscheine überhaupt schon ein gebräuchliches Zahlungsmittel waren, konnte er sicherlich nichts anfangen, von Euroschecks gar nicht zu reden. So machte ich mich, obwohl es bereits dunkel war, auf zu einem Trödler, an den er mich verwiesen hatte - Ladenschlußzeiten gab es offenbar nicht - und ging im Geist die wenigen Dinge durch, die mit mir in den Zeitrutsch geraten waren: Meine Kleidung, Armbanduhr, Kontaktlinsen (ein Glück, daß ich keine Brille trug, die hier sicherlich unangenehm aufgefallen wäre; ohnehin nahmen die Leute bemerkenswert wenig Notiz von meinem Äußeren, das auf sie doch recht fremdartig wirken mußte), das erwähnte Geld und eine Leinentasche mit Greenpeace-Aufdruck. In dieser befanden sich mehrere Hochglanzprospekte verschiedener Computergraphikfirmen, Schreibblöcke, ein Federmäppchen mit einem halben Dutzend Druckbleistiften, drei Kugelschreibern (einer davon mit eingebauter Taschenlampe für Notizen in abgedunkelten Vortragssälen), einem Papiermesser und einem Uhrmacherschraubenzieher, eine Tüte mit Nüssen und Rosinen (die ich, sobald sie mir eingefallen waren, zu essen begann), der übliche Stapel unsortierter Notizen und Ausdrucke, alter Briefe usw., eine Videokassette sowie ein großer Bildband über Mozart, den zu tragen mich jemand am Tag zuvor gebeten hatte, dessen Tasche dafür zu klein gewesen war, und den ich vergessen hatte, ihm im Hotel zu geben. Falls ich hier längere Zeit verbringen sollte, konnte ich meinen Lebensunterhalt verdienen, indem ich Dinge »erfand«, die es noch nicht gab, die aber mit den Mitteln, die zur Verfügung standen, realisierbar waren, sobald ich herausgefunden hatte, was benötigt wurde und zugleich verwirklicht werden konnte - spontan erinnerte ich mich an eine Maschine zur Lösung von Gleichungen dritten Grades, die einfach zu bauen war. Gerade als ich den Laden erreichte, kam mir meine Euroscheckkarte in den Sinn - das Hologramm darauf, das zwar flach war, doch aus jeder Richtung betrachtet einen anderen Eindruck einer scheinbar räumlichen Büste Beethovens erweckte, mußte hier sicherlich Aufmerksamkeit erregen, sprich: sich zu Geld machen lassen. Sorgfältig schnitt ich es mit dem Papiermesser aus der Karte.

Da, als ich den Laden betrat, bereits ein Kunde anwesend war, gab ich vor, die Antiquitäten, die den Raum füllten (und die hier wohl nichts als Plunder waren) in Augenschein zu nehmen, während ich in Wirklichkeit die Verhandlung belauschte, um daraus vielleicht etwas für meine eigene lernen zu können. Doch der Handel war abgeschlossen, der Händler nahm einen kleinen, silberglänzenden Gegenstand in Empfang und schob dafür ein paar Münzen über den Tisch; als sich beide verabschiedeten, nannte der Händler seinen Kunden beim Namen - konnte das Zufall sein? Oder war es ein Hinweis darauf, daß nicht meine Zeitrutschhypothese, sondern eine andere meiner Vermutungen zutraf? Kurzentschlossen sprach ich den Kunden an, fragte ihn, ob er tatsächlich Mozart sei, der Komponist Wolfgang Amadeus Mozart, und bat ihn, als er, wenn auch nur sehr zurückhaltend, bejahte, kurz zu warten.

Ich zeigte dem Trödler mein Hologramm - nannte es eine neuartige Kupferstichtechnik des holländischen Meisters Dijkstra - und er bot mir augenblicklich eine Summe, die etwa dem zwanzigfachen dessen, was der Wirt als Monatsmiete verlangt hatte, entsprach, ja er erhöhte sogar auf das fünfundzwanzigfache, als er meine Überraschung fälschlich als Mißbilligung deutete (etwas, wovon ich nie gedacht hätte, daß es außerhalb von Schundromanen geschehen könnte). Mozart, der neugierig nähergetreten war, erkannte erstaunt seinen Schüler Beethoven. So verließ ich mit einer größeren Barschaft zusammen mit Mozart den Laden.

Was sollte ich ihm erzählen? Ich wußte nicht viel über ihn. Daß er tot war, was aber im Augenblick nicht zutraf, Musiker, der seinen Ruhm nicht mehr erlebt hatte, daß Einstein (Alfred, ein Vetter Alberts) ein Buch über ihn geschrieben hatte, daß seine Biographen, wie ich in einer Zeitschrift - Bild der Wissenschaft, Juni '91, soweit ich mich erinnere - gelesen hatte, ein völlig falsches Bild von ihm gezeichnet hatten, denn wie moderne Papieranalysen und Untersuchungen der Wasserzeichen auf dem Notenpapier zeigten, hatte er keineswegs seine Werke in einem Zug geschrieben, ließ sie vielmehr oft jahrelang unvollendet. (Sofort hatte ich dabei an die Geschichte des zeitreisenden Schauspielers gedacht, der Shakespeare als hoffnungslosen Trunkenbold antraf und sich gezwungen sah, sein Werk aus dem Gedächtnis niederzuschreiben, weshalb nirgendwo in den Originalschriften auch nur eine einzige Zeile ausgestrichen ist.) Das war alles, was mir zu Mozart einfiel. So entschied ich mich, in der Annahme, daß ein Genius wie er solchen Dingen gegenüber aufgeschlossen sein müßte, dafür, ihm die Wahrheit zu sagen.

Ich weiß nicht, ob er mir glaubte, wenn er auch das Hologramm gesehen hatte und ich ihm meinen Solartaschenrechner, der zwischen meinen Ausweisen gesteckt hatte und hier im Dunkeln kaum funktionierte, zeigte, doch meine Geschichte faszinierte ihn immerhin, so daß wir uns in den folgenden Wochen häufiger trafen, meist, um ungestört zu sein, in meinem Zimmer im Gasthaus, »Kämmerchen«, wie der Wirt es nannte, obwohl es für meine Verhältnisse recht groß war. Vermutlich würde zwei Jahrhunderte später der Besitzer eine Zwischendecke einziehen lassen und es an ein paar Studenten, vorzugsweise eine Fünfer-WG, vermieten. Die Decke war sicherlich drei Meter hoch, obwohl die Menschen zu dieser Zeit im Mittel schätzungsweise fünfundzwanzig Zentimeter kleiner waren als Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, was mich, der ich etwa die Durchschnittsgröße eines Studenten um das Jahr 1920 habe, eher groß wirken ließ.

Mozart schien nach einigen Tagen zu der Überzeugung gelangt zu sein, daß meine Geschichte, so verrückt sie klingen mochte, doch ein Fünkchen Wahrheit enthalten mußte. Zumindest fragte er mich nach moderner Musik, bat mich, ihm am Flügel etwas vorzuspielen (was ich ablehnte, da ich nur mit beschrifteten Tasten etwas anfangen kann); schließlich bemühte ich mich, einige Melodien zu pfeifen, doch ich brachte lediglich einen Marsch aus der Reinigungsmittelwerbung, den Anfang der Nationalhymne und die Titelmelodie der Fernsehserie Raumpatrouille zustande. Wie er mir später gestand, hätte er mich angesichts meiner Ignoranz am liebsten geohrfeigt, betrank sich statt dessen jedoch an diesem Abend.

Seine Gesundheit war angegriffen; ständig wurde er von Hustenreiz gequält. Und auch psychisch ging es ihm schlecht. Im Januar, einen Monat vor unserer ersten Begegnung, war seiner Buffa (das scheint eine Art gesungenes Boulevard-Theater zu sein) Così fan tutte nur ein leidlicher Erfolg beschieden, und er arbeitete nun sehr unlustig an einer Oper mit dem Titel Zauberflöte. In dem Bildband, den ich ihm natürlich vorenthalten hatte, da er unter anderem das Datum seines Todes nannte, entdeckte ich auch eine Schallfolie. Wurde die Pappe, in der sie sich befand, aufgeklappt, kam eine Nadel zum Vorschein, die den Ton von der Folie, wenn diese mit dem Finger oder einem Stift gedreht wurde, abnahm und über die Pappe verstärkt abstrahlte. Ein äußerst primitiver Plattenspieler, wenn auch wirkungsvoll; jedenfalls hoffe ich, daß Edison so etwas nie zu Gesicht bekommt. Mozart immerhin war beeindruckt, als er einen kurzen Ausschnitt aus der Synthesizerbearbeitung eines japanischen Musikers hörte, in der er seine Krönungsmesse wiedererkannte. Das zumindest heiterte ihn etwas auf, doch bald wurde er sehr nachdenklich.

Noch verfügte ich über genügend Geld, notfalls konnte ich einige Bilder aus den Farbprospekten verkaufen. Möglicherweise konnte ich mich mit konventioneller Malerei beschäftigen, wenn ich auch, wie merkwürdigerweise viele Computergraphiker, rot-grün-blind bin, und deshalb in den nächsten hundertfünfzig Jahren nicht mit Erfolg rechnen durfte. Jedenfalls dachte ich über meine »Erfindungen« nach. Falls es möglich war, die Geschichte - meine Vergangenheit, Mozarts Zukunft - zu ändern, war dies sicherlich schon durch meine Anwesenheit geschehen. Deshalb hatte ich keine Bedenken, doch als ich meine Gleichungsmaschine erwähnte, fragte mich Mozart, wozu jemand Gleichungen dritten Grades (was das sein sollte, war ihm ohnehin unklar) lösen müßte, worauf ich keine Antwort wußte. Was konnte ich tun? Mit Computern kannte ich mich aus, aber sollte ich Mikrochips aus Holz schnitzen? Von den meisten anderer Dingen, die bisher alltäglich für mich gewesen waren, besaß ich nur oberflächliche Kenntnisse. Ein Otto-Motor arbeitet irgendwie mit einem explodierenden Gas-Benzin-Gemisch, ein Dynamo benötigt irgendwelche Drahtspulen (Kupfer, glaube ich), Penicillin entsteht aus irgendeinem Schimmelpilz ... jedesmal ein »irgend« zuviel. Es gab zu Mozarts Zeit keine Kugeln, die rund genug gewesen wären, um einen Kugelschreiber bauen zu können, keine geeignete Antriebskraft für ein Flugzeug, kein Material für ein brauchbares Fahrrad.

Währenddessen kam auch Mozart nicht recht voran mit seiner Zauberflöte. Manchmal beobachtete ich ihn, wie er die Feder ins Tintenfaß tauchte, Kleckse aufs Papier machte, in die Tasten griff und sich die Haare raufte. Doch mit der Zeit wurden die ständigen Wiederholungen langweilig, ja nervtötend, so daß ich mich anderweitig beschäftigte.

Im Verlauf des Sommers aber reifte in mir ein Gedanke: An der Wiener Universität hatte es schon lange (zu meiner Zeit) Computer gegeben, die mit Hilfe künstlicher Intelligenz den Stil eines Komponisten durch »hören« seiner Musik lernten und dann in der Lage waren, wie er zu komponieren. So war Musik entstanden, die Bach nie geschrieben hatte, die aber doch wie Bach klang.

Das Hauptproblem war, daß mir kein Computer zur Verfügung stand. Zwar machte mir das tagelang zu schaffen, doch dann erinnerte ich mich an den Schachautomaten, den Martin Gardner in den sechziger Jahren gebaut hatte. Sein - vereinfachtes - Schachspiel besteht aus drei mal drei Feldern und je drei Bauern pro Spieler, die ein Feld vorwärts ziehen oder schräg schlagen können. Wer die dritte Reihe erreicht, alle Figuren des Gegenspielers schlägt oder ihm das Ziehen unmöglich macht, hat gewonnen. Auf Streichholzschachteln zeichnete Gardner jeweils eine der 24 möglichen Stellungen, kennzeichnete die verschiedenen Züge durch unterschiedliche Farben und legte für jeden Zug eine Liebesperle entsprechender Farbe in die Streichholzschachteln.

Zog er nun mit geschlossenen Augen eine Perle aus der Schachtel, die der aktuellen Stellung entsprach, war damit zufällig ein Zug bestimmt. Führte diese Zufallsstrategie zum Sieg, legte er die Perlen wieder in die Schachteln, andernfalls entfernte (oder aß) er diejenige, die den letzten Zug ausgelöst hatte, und legte nur die anderen zurück. So wurde mit jedem Spiel die Wahrscheinlichkeit für korrekte Züge immer größer, der Automat »lernte«, zu gewinnen.

Nachteil dieses Verfahrens ist, daß, um ein vollständiges Schachspiel zu lernen, etwa so viele Streichholzschachteln erforderlich wären, wie es Atome im Universum gibt, denn die Anzahl der möglichen Züge wächst (denke ich) exponentiell.

Doch die Anzahl der möglichen Kombinationen weniger aufeinanderfolgender Noten (kurzer Markov-Ketten also) ist sehr beschränkt. Mozart war zunächst skeptisch, erklärte sich dann jedoch (da er mit seiner Arbeit ohnehin in einer Sackgasse angelangt war) bereit, mich zu unterstützen. Aus dem Schulunterricht erinnerte ich mich nur noch, daß Noten sich aus Nüßchen und Fähnchen zusammensetzen, doch mit Mozarts Erläuterungen wurde mir schnell klar, daß die Notenlinien ganz einfach ein Koordinatensystem repräsentierten: die Abszisse entsprach der Zeitachse, die Ordinate der Tonhöhe (wobei seltsamerweise die zweite Linie von unten, eine g genannte Tonhöhe, als Basisordinate verwendete wurde). Die Zeitachse war allerdings nicht linear, nicht einmal stetig, sondern beeinflußt von der Tondauer, die durch die Darstellung der einzelnen Noten spezifiziert wurde. Dabei war (solche Unlogik muß Künstlern wohl zugestanden werden) die Zeit, die benötigt wurde, die Note zu zeichnen, umgekehrt proportional zur Länge des Tons. Sofort überlegte ich, eine systematischere Notation zu entwickeln, verwarf den Gedanken jedoch wieder, da es mir noch an Erfahrung mit der konventionellen mangelte.

Die technische Realisierung war sehr zeitraubend. Ich benutzte kleine Döschen (wohl für Tabak gedacht) und, nachdem Ratten meinen Vorrat an Zuckerkügelchen dezimiert und meine Arbeit um Wochen zurückgeworfen hatten, Holzperlen. In mehreren Brainstorming-Sitzungen zusammen mit Mozart gelang es mir, die Zahl der benötigten Speichereinheiten (also Schachteln) stark zu verringern. Die Lernphase war bei weitem das Aufwendigste, sie umfaßte beinahe neun Monate, doch dann zeigten sich erste brauchbare Resultate. Aus einer Verbindung des Gardner-Automaten und moderner Methoden der künstlichen Intelligenz enstand - Amadeus, Akronym für Automatische Komposition durch elementare Unit-Simulation (Unit, also Einheit oder Bauteil, ist die übliche Bezeichnung für die Elemente solcher Simulatoren).

Mag sein, daß jemand, der dieses Manuskript findet, es für Phantasterei hält. Daher will ich versuchen, die Authentizität zu belegen, indem ich Vorhersagen mache, deren Genauigkeit Nostradamus angesichts seines eigenen vieldeutigen Gefasels vor Neid erblassen ließe. An welche zukünftigen Ereignisse erinnere ich mich? Geschichte war nie mein stärkstes Fach in der Schule. Kriege? Aber wann war der siebte punische Krieg? Gleichgültig, er ist ohnehin schon Vergangenheit. Attentate: Martin Luther King verlor durch einen Kopfschuß sein Sprachvermögen; von Stauffenberg tötete '44 Hitler durch einen Sprengsatz - ein besserer Militärstratege wurde Reichskanzler, sonst hätten wird die zweite Weltverteidigung womöglich verloren; John Lennon, ein bekannter Pianist, wurde etwa '68 erschossen, Heiner Geißler, Generalsekretär der NSDAP, '90 erstochen ... das alles könnte ich nicht vorausahnen, wenn ich mich nicht daran erinnerte.

So also komponierte Mozart zusammen mit Amadeus große Teile der Zauberflöte. Mozarts Todestag, den ich allein kannte, rückte näher. Doch der April verstrich, und er lebte immer noch. Es ist offensichtlich: Durch meine Anwesenheit hier war sein Lebenswille gestärkt. Dabei fällt mir ein, möglicherweise hat sich noch mehr verändert. Mag sein, daß hier in Wien, in weit über hundert Jahren, Hitler die Zauberflöte, die es bisher noch gar nicht gab, hört, dadurch neue Einsichten gewinnt, klarere menschliche Figuren in seine Bilder einarbeiten kann und von der Akademie angenommen wird - Mein Kampf wird vielleicht nie geschrieben werden.

Daher brauche ich wissenschaftliche Fakten, um meine Worte zu beweisen. Pluto ist noch nicht entdeckt. Also: es gibt einen äußeren, neunten Planeten, dessen Bahn manchmal die des Neptun kreuzt. Nein, zwecklos, Jonathan Swift hat in seiner Satire Gullivers Reisen die beiden Marsmonde vorausgesagt. Zufall, falls ich nicht erneut in einen Zeitrutsch gerate und ihm davon erzähle. Natürlich, das ist es: Niemand kann heute ahnen, daß Energie der Masse äquivalent ist, mit einem Proportionalitätsfaktor, der gleich dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit ist, kurz: E=m·c². Das sollte als Echtheitsbeweis genügen.

Ende September wurde die Zauberflöte in einem Vorstadttheater aufgeführt, ein letzter Lichtblick für Mozart, der am 4. Dezember 1791, einem naßkalten Sonntag, mehr als ein halbes Jahr nach dem in meinem Buch angegebenen Datum, im Alter von fünfunddreißig Jahren starb, während er gerade einen Teil eines von Amadeus komponierten Requiems in gewöhnliche Notenschrift übertrug. Ich war nie auf einer Beerdigung gewesen, denn was da vergraben wird, ist nichts als paar Kilogramm tierischen Gewebes, und ich machte auch bei Wolfgang Amadeus Mozart keine Ausnahme.

Inzwischen schreiben wir das Jahr '92. 1792. Der Automat komponiert eine Sinfonie. Die letzte Amadeus-Sinfonie stammt nicht von Mozart, sondern von einem Streichholzschachtelcomputer. Und ich wette, daß niemand es bemerken wird.

Nachtrag:

Gerade als ich dieses Manuskript auf die Tischplatte schlug, um die Seiten auszurichten, erfolgte ein erneuter Zeitrutsch. Ich fiel etwa zwei Meter tief, zwar auf weichen Waldboden, doch ich übertrat mir das Fußgelenk, das daraufhin stark anschwoll. Seither sind etwa drei Monate vergangen.

Ich fand ein nahes Dorf, und lernte bald die Grundzüge der Sprache der Einwohner, die mich freundlich aufgenommen hatten. Das Dorf ist eine keltische Siedlung, an der Stelle, an der später einmal die Stadt Wien entstehen wird - Donau und Alpen existieren bereits als unverkennbare Landmarken. Ich muß über zwei Jahrtausende in die Vergangenheit gerutscht sein.

Die landwirtschaftliche Geräte, die die Kelten benutzen, sind äußerst primitiv. Auch ohne größere Kenntnisse auf diesem Gebiet dürfte es einfach sein, sie entscheidend zu verbessern ...

April 1991