Achim Stößer

Göthé

Am meisten störte mich an der Frankfurter Buchmesse 1999, daß jeder, wirklich jeder Verleger meinte, den Lesern Goethe in den Rachen stopfen zu müssen, Johann Wolfgang von, deep throat, und das nur, weil die Erde seit seiner Geburt zweihunderfünfzig Mal um die Sonne getorkelt war. Mephistopheles angemessene Zahlenmystik, mag sein, doch unwürdig dem Sprung ins dritte Jahrtausend. Hätte ich geahnt, Goethe kurz darauf in persona gegenüberzustehen, ich hätte sie nicht mit aller Gewalt ignoriert, sondern soviel bedrucktes Papier wie nur möglich mitgeschleppt.

Mein ganzer Körper schmerzte von der allherbstlichen Erkältung, meine Füße von den allzu langen Gängen der Messe und mein rechtes Fußgelenk vom Niederdrücken des Gaspedals. Vier Stunden schon auf der Autobahn zurück nach Berlin, und noch nicht einmal an Leipzig vorbei, ermüdende Monotonie der Wischerarme, die im Halbsekundenrhythmus vergeblich die zerplatzten, schweren Regentropfen von der Scheibe schrammten und damit auch die Sternsplitter der sich darin brechenden Scheinwerfer- und Rücklichter abkratzten wie verkrustetes Eis. Die mit tödlicher Langeweile wie eine Reiswaffel mit zuviel Erdnußbutter und Aprikosenmarmelade bestrichene Stimme im Radio verlas einen Aufsatz über den germanisierten, nationalisierten, marxifizierten, syndikalisierten Faust. Faust und die Sinnkrise. Faust und die Epigonen. Faust und das "Faustische". Amalgamierung und Dissoziation von Faust und Goethe, Faust und Mephisto, Faust und Luther, Faust und Schiller, Faust und Parzifal. Die Schallwellen drangen aus den Lautsprechern von beiden Seiten in meine Ohren ein, prallten in meinem evakuierten Kopf aufeinander und verpufften wie eine Bärlappexplosion. Ich war müde, doch nicht lebensmüde, beim leisesten Anzeichen von Sekundenschlaf hätte ich angehalten, doch ich registrierte jedes Detail mit jener Klarheit am Rand der Übermüdung: ich glitt über den Spiegel der nassen Straße, und dann, wie ein Filmschnitt, war ich blind, fast blind, alles Licht verschwand, nur meine Scheinwerfer rissen Fetzen von Büschen aus der Dunkelheit, der Wagen sackte ab wie ein Expreßlift, ich trat das Bremspedal durch, ohne Wirkung, dann schrammender Aufprall auf dem Boden, Lärm, doch ohne spürbare Verringerung der Geschwindigkeit, ich brach durch eine Hecke, dann erstickte mich der Airbag, Schmerz stach durch meinen Nacken, der Wagen stand. Dunkelheit. Stille.

Ich kämpfte gegen den Airbag, stemmte mich gegen die verzogene Fahrertür, fiel ins Freie. Am jetzt wolkenlosen Himmel leuchtete ein fast voller Mond, am Horizont wurde es hell. Der Unfall war gegen Mitternacht geschehen, jetzt dämmerte der Morgen. Bewußtlosigkeit durch den Aufprall, glaubte ich, obwohl ich mich an jede Einzelheit des Geschehens zu erinnern meinte. Der Stamm einer Buche hatte in der Mitte den Motorblock zusammengepresst, die Rinde war weggehobelt. Es brannte nicht, dennoch war alles, das Äußere wie das Innere des Fahrzeugs, selbst meine Kleidung und meine Haut, von einer graubraunen Rußschicht bedeckt. Tiefe Furchen im Waldboden führten zum Heck des Wagens - dem, was davon übrig war, ein vielleicht armlanger Teil war quer über die gesamte Breite abgetrennt, als ob ein Riese ein Stück des Kofferraums abgebissen hätte. Ich folgte den Furchen, um zur Autobahn zu gelangen, durch zerfetztes Gebüsch. Feuchter Waldboden, doch trotz der Regengüsse der letzten Nacht nicht schlammig.

Die Spuren begannen unvermittelt wie aus dem Nichts.

Nirgendwo war auch nur das leiseste Anzeichen der Autobahn zu entdecken, keine Fahrgeräusche zu hören. Vögel hatten zu zwitschern begonnen. Ich stand mitten im Wald. Das Mobiltelefon war nutzlos, es gab kein Netz. Einen Augenblick kam mir der Gedanke, ich wäre bei dem Unfall gestorben, und dies sei soetwas wie ein Leben nach dem Tod. Doch dann machte ich mir klar, daß ein Leben nach dem Tod nicht nur jeder sinnvollen Definition des Wortes Tod Hohn sprach wie die Frage, wohin Löcher gehen, wenn sie gestopft werden, oder wohin die Dunkelheit sich begibt, wenn jemand das Licht einschaltet, sondern allein schon physikalisch so sinnvoll ist wie Musik von einer zum Klumpen geschmolzenen Schallplatte - nichts als nutzlose, vernichtete Information. Und ich schalt mich einen Narren angesichts solch kindischer Gedanken. Es mußte eine andere Erklärung geben. Amnesie, ein Gehirntumor, Parkinson, Multiple Sklerose, vielleicht hatte jemand mir aus welch obskuren Gründen auch immer ein Betäubungsmittel verabreicht. Vermutlich, machte ich mir vor, waren es einfach traumatische Nachwirkungen des Unfalls.

Ich nahm meine Brieftasche mit Ausweisen und Geld, packte etwas Obst und eine Flasche Mineralwasser in eine Tasche und machte mich auf den Weg.

Während ich mich an all dies in vollster Klarheit und bis in jede Einzelheit erinnere, ist das, was folgte, wie ein wirrer Traum, ein klumpiger Brei, zu bizarr, zu unwirklich, ein Knäuel von Eindrücken, Bildern, Sätzen. Es dauerte lang, ehe ich zu einer Straße kam, einem Feldweg vielmehr, dem ich folgte, bis ich einen Wagen traf. Es war grotesk, kein Auto oder auch nur Traktor, sondern ein Ochsenkarren, der Körbe mit Gemüse und Brot geladen hatte. Unwillig nahm der Bauer mich auf dem Bock mit, nachdem er mir verraten hatte, daß er auf dem Weg in die Stadt sei, zum Markt, wie er sagte. Ich verstand kaum seinen Dialekt. Er blieb wortkarg, sah mich nur verständnislos an, als ich fragte, in welche Stadt er führe, und ob er aus einem Museumsdorf käme. Als ich eine Banane schälte und aß, lag in seinem Blick Abscheu. Ich vermutete, er würde zu irgendeiner Sekte gehören, worauf auch seine eigenartige Kleidung hinzudeuten schien, und verkniff es mir, ihm zu sagen, was ich von der Ausbeutung von Tieren als Arbeitssklaven hielt.

Obwohl es nur ein paar Kilometer waren, dauerte es Stunden voller quälendem Schweigen auf einem auf und ab ruckenden Holzbrett, bis wir am Morgen die Stadt erreichten. Stadt! Ein Dorf, doch eingemauert wie München, die Mauern brennend im Licht der aufgehenden Sonne, regelrechte Grenzkontrollen an den Stadttoren. Statt Auspuffgasen und Benzindämpfen der Gestank modernden Abfalls und menschlicher Exkremente. Kopfsteinpflaster. Ochsenkarren, Pferdewagen, Kutschen, doch vor allem Menschen, zu Fuß, meist mit Lasten beladen, doch mit zeitlupenhafter Langsamkeit fast schlendernd, als hätten sie nichts zu tun.

Es war kein Museumsdorf. Es war keine Filmstadt. Es war kein Trick, kein Traum, kein Hirngespinst, keine Wahnvorstellung, keine Drogenhalluzination. Es war zu realistisch für den Cyberspace, zu greifbar für ein Hologramm.

Es war echt. Ich war im vergangenen Jahrhundert gelandet.

Ich weiß nicht, wie lange ich durch die Gassen irrte, ehe ich es mir begreiflich gemacht hatte. Die Passanten, die ich ansprach, waren wenig hilfreich, meist abweisend. Ich war in Weimar, im Sommer 1829. Welch eigenartiger Zufall, daß es mich ausgerechnet an diesen Ort und in diese Zeit verschlagen hatte, was mir eine Begegnung mit Goethe ermöglichte, wohl einem der wenigen Menschen dieses Jahrhunderts, denen ich meine Herkunft offenbaren konnte, ohne im Narrenturm zu enden, so dachte ich. Und welch ein Glück, gar nicht auszudenken, wenn ich mich angesichts meiner geradezu peinlichen musikalischen Ignoranz mit jemandem wie Mozart hätte auseinandersetzen müssen, oder in einer Zeit gelandet wäre, in der die einzige herausragende Persönlichkeit Attila der Hunne war - oder ein Australopithecus.

Ein Zeitrutsch, das war die Hypothese, die ich, so wenig ich es mir erklären konnte, so unwahrscheinlich sie mir schien, als vorläufig gegeben akzeptierte. Obwohl sich Erde, Sonnensystem und Galaxie in all diesen Jahrzehnten rasend weiterbewegt hatten, war ich scheinbar am gleichen Ort geblieben, ich war nicht irgendwo im Vakuum gelandet. Die Gesetzmäßigkeit, auf der das beruht, ist mir unklar, ich vermute, es wird wohl mit der Gravitation zusammenhängen, die ja freundlicherweise auch sonst dafür sorgt, daß die Erde uns nicht davonfliegt, wenn wir uns, wie es sich gehört, mit einer Zeitgeschwindigkeit von vierundzwanzig Stunden pro Tag im Raum-Zeit-Kontinuum vorwärts bewegen.

Also fragte ich mich zum Haus des Geheimrats durch, ohne lang nachzudenken, stieg entschlossen die Eingangstreppe hinauf umd schlug den Türklopfer gegen die massive Holztür. Ein Bediensteter öffnete, und erst als er mich mißbilligend von Kopf bis Fuß musterte, etwas, das sich für jemanden in seiner Stellung, wie ich fand, kaum schickte, wurde mir bewußt, daß ich mit meiner Straßenkleidung aus dem zwanzigsten Jahrhundert, schlammverkrustet bis zu den Knöcheln, über und über rußverschmiert, nicht viel Staat machen konnte. So improvisierte ich eine Legende, gab mich als französischer Kurier aus. "J'ai une dépéche pour Monsieur Goethe", keuchte ich, halb echt und halb gespielt. "Trés important. Une, äh - Botschaft aus Paris an Monsieur Goethe, dringend, s'il vous plaît."

Ich hoffte, sein Französisch wäre noch schlechter als meines. Er machte keine Anstalten, mich einzulassen, ich drängte mich an ihm vorbei, er lief lamentierend zuerst hinter mir her, wieselte um mich herum, versuchte, sich mir in den Weg zu stellen, führte mich so unfreiwillig, indem er sich unbewußt zwischen mich und seinen Herrn drängte, vorbei an, wie mir schien, Dutzenden weiterer Dienstboten, die perplex starrten, ohne uns aufzuhalten, zu Goethe. Ohne Anzuklopfen riß ich eine Tür auf.

Der Mann, den ich an seiner markanten Nase zweifelsfrei als Goethe erkannte, saß mit geschlossenen Augen und aufgerissenem Mund an einem wuchtigen Schreibtisch, er sprang auf, wandte sich ab und richtete seine derangierte Kleidung, während sich hinter dem Schreibtisch eine junge Bedienstete vom Boden erhob und an mir vorbei aus dem Raum floh.

Goethe fuhr herum, "Was ...?" herrschte er mich an, dann erstarrte er, als wäre er Faust, dem soeben Mephisto in einer Wolke aus Schwefel und Rauch erschienen war.

"Verzeihen Sie", sagte ich, "ich weiß nicht, wie ich es erklären soll ..."

Er trat näher, ich rührte mich nicht. Nasenspitze an Nasenspitze standen wir da. Ich sah jede einzelne Pore in seinem staubigen Gesicht wie Lovell, Haise und Swigert die Krater des zum Greifen nahen und doch unerreichbaren Monds. Seine Haut war blaß, fahl wie Auszugsmehl. Welche Veränderung zum Säugling Goethe, der in einer dunklen Wochenstube, beleuchtet nur von spärlichem Licht, das durch Butzenscheiben fiel, zur Welt gekommen war, blau von Asphyxie, so gut wie leblos, fast schwarz. Ja, ganz recht, inzwischen habe ich mich näher mit ihm befaßt, wenn auch nur ein wenig.

Er war ein Greis, erst recht hier, zu dieser Zeit, in der die biblischen siebzig Jahre, über die er längst hinaus war, als das höchste erreichbare Alter galten. Ein Greis, trotz großer, dunkler Augen in seinem mehligen Gesicht. Verstaubt, wie die alten Spinnweben, welche die Folianten in diesem Zimmer und die Wände zierten, von ihren Besitzerinnen längst aufgegeben.

Dann flüsterte er meinen Namen. Meinen Namen, den ich ihm nicht genannt hatte.

Ich wagte nicht, zurückzuweichen, hielt den Atem an.

"Unverändert", sagte er. "Nicht einen Tag gealtert, nicht einen Augenblick in all den Jahren."

Ich konnte nichts erwidern. Langsam dämmerte mir, was seine Worte zu bedeuten hatten.

Endlich trat er zurück, schlug die Hände vors Gesicht. "Ach, welch ein Narr ich war in Mainz." Er ließ die Hände sinken. "Es war die Wahrheit, alles, alles. Keine Schimäre. Mein Leben lang hab' ich gesucht, und hatte dabei längst gefunden. Gefunden und zurückgewiesen. Was hat es mich gekostet, mein Zaudern damals!" Er schwieg. Dann fragte er: "Wie lange hab' ich noch zu leben?" Doch gleich hob er abwehrend die Hand: "Nein! Schweig! Ich will vom Tod nichts wissen. - Hinaus! Weg mit ihm!"

Ehe ich etwas erwidern konnte, setzten mich drei der inzwischen zusammengelaufenen Bediensteten vor die Tür.

Ich will es kurz machen, die Einzelheiten werde ich vielleicht ein anderes Mal berichten, es ist längst dunkel, das Licht der übelriechenden Öllampe nicht gerade hilfreich, und Edison noch lange nicht geboren.

Da Goethe mich hatte hinauswerfen lassen und die Domestiken mich nicht mehr einließen, machte ich mich auf den Weg nach Mainz, nachdem ich alles Brauchbare aus dem Autowrack geborgen hatte. Keine angenehme Reise in der Pferdekutsche - Goethes Wegebaukommission hat noch einiges zu tun, fürchte ich, und es gab Zollkontrollen an den Grenzen all der Kleinstaaten - nicht angenehm für mich, schon gar nicht für die Pferde. Wenigstens erfuhr ich interessante Neuigkeiten, etwa, daß die Briten kürzlich die Witwenverbrennung in Indien verboten hatten. Die Reise hatte ich eingetauscht gegen die Taschenlampe aus dem Handschuhfach; die paar Talerscheine mit Franz Josef Strauß' Konterfei in meiner Brieftasche waren ebenso wertlos wie die Geldkarte. Der neue Besitzer der Lampe wird, scheint mir, nicht viel Freude damit haben, wenn die Akkus entladen sind, ausgleichende Gerechtigkeit, redete ich mir ein, um mein Gewissen zu beruhigen.

Wenn jemand in der Zukunft dieses Manuskript liest, wird es vielleicht als Phantasterei abgetan. Ich kann kaum darauf hoffen, daß beim Bau der Autobahn zwischen Gotha und Jena die Überreste meines bald zweihundert Jahre alten Ford, Baujahr 1998, gefunden werden. Sie wurden nicht gefunden, ich hätte davon gehört. Vielleicht wird es glaubhafter, wenn ich zukünftige Ereignisse voraussage mit einer Genauigkeit, die mir nicht möglich wäre, wenn ich nicht aus der Zukunft käme. Doch welche? Für Geschichte habe ich mich nie interessiert. Was ist in letzter Zeit Weltbewegendes geschehen? Bianca Wood, die Leadsängerin der Beatles, starb an einer Überdosis Alkohol, und Hunderte von Groupies folgten ihr in den Tod. Heiner Geißler, Generalsekretär der NSDAP, ertränkte sich unter mysteriösen Umständen im Bidet seines Hotelzimmers. Monica Lewinsky blies Premier William Clinton den Kopf weg und versetzte das Commonwealth damit in Aufruhr. Das sollte wohl genügen.

Kaum war ich in Mainz angekommen, kam der zweite Zeitrutsch, zurück ins Jahr 1793. Wie es scheint, rutscht ein ganzer Raumzylinder in die Vergangenheit, wird offenbar in beiden Zeiten vertauscht (so wie bei einem Erdrutsch der Boden oben in gewisser Weise mit der Luft unten vertauscht wird), die Achse parallel zur Schwerkraft, oben und unten begrenzt durch meine Körperhöhe, der Zylinderdurchmesser beträgt vielleicht zwei Meter. Das klingt so nüchtern, die Realität sieht anders aus: Bei der Landung war aus dem Boden knietief ein kreisrunder Ausschnitt verschwunden, am Rand lag ein Stück einer Häusermauer - und der abgetrennte Hinterleib eines Pferds. Ich machte mich so schnell wie möglich davon, glücklicherweise hatten die Einwohner der belagerten Stadt andere Sorgen, als sich um vermeintliche Hexerei zu kümmern. Es ist seltsam, ich habe Goethe nie mit irgendwelchen Kriegen in Verbindung gebracht, in meiner Vorstellung, wenn ich an ihn dachte, schwebte er in geschichtslosem Nichts, gab es keinen Siebenjährigen Krieg, keinen Bayrischen Erbfolgekrieg, keine vier Koalitionskriege. Ob Goethe je dagegen geschrieben hat? Ich glaube kaum, im Gegenteil, er zog ins Feld ohne Zwang, "Von hier und jetzt geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus", kommentierte er die Kanonande von Valmy.

Und nun sitze ich hier in meiner Kammer, ein paar hundert Meter Luftline von Goethe entfernt, dem nicht mehr ganz so alten Goethe, der mich, den Verrückten, wie zu erwarten davongejagt hat. Ich zitierte Faust aus dem Gedächtnis - "habe nun Juristerei, Physik und, ach, leider auch Theologie studiert mit heißem Bemühn. Hier sitz' ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor", mehr, zugegeben, brachte ich nicht zustande. Ich sprach über Goethes Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknoches und seine Farbenlehre, mit der er blind gegen Newtons Spektralmodell anrannte, seine Zukunft als Geheimrat, die Zukunft der Menschheit: die unterseeischen chinesischen Kolonien, die erste Mondlandung, bei der Jurij Gagarin den Grundstein legte für Stalingrad, seine Worte, die um die Welt gingen: "Ein Stein des Mondes, ein Baustein der Welt." Ich ließ mein Mobiltelefon ein paar Rufmelodien piepsen. Ich zeigte ihm sogar die fast verblassten Hämatome von den Sicherheitsgurten. Ohne Erfolg.

Hier sitz' ich nun, ich armer Tor, und erwarte den nächsten Zeitrutsch. Dabei habe ich mich selbst äußerlich kaum dieser Zeit angepaßt, meine bis zu den Füßen reichenden Hosen hatten lang genug Aufsehen erregt. Ich habe nicht die blasseste Ahnung, wie lange Mainz noch belagert sein wird, Monate, Jahre, aber dann werde ich vielleicht nach England reisen, wer weiß, vielleicht treffe ich Newton oder Shakespeare; und sie bauen dort gerade eine Eisenbahnlinie von Liverpool nach Manchester. Jedenfalls will ich mich nicht von Luther mit dem Tintenfäßchen bewerfen lassen, wenn ich plötzlich vor ihm stehe und er mich in seinem religiösen Wahn für den Leibhaftigen hält. Zwischenzeitlich werde ich mich darum kümmern müssen, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Meine Artefakte aus der Zukunft werden nicht für die Ewigkeit reichen, und Arbeit für Informatiker ist rar in dieser Zeit.

Ich weiß nicht, ob meine Anwesenheit in der Vergangenheit nicht die Zukunft verändert hat. Vielleicht haben meine Hosen eine neue Mode ausgelöst, in Weimar hatten viele Pantalons getragen. Vielleicht wird es nie eine Weimarer Verfassung geben, keinen 40jährigen Krieg von 1914, der erst durch das atomare Feuer, das München verzehrte, beendet wurde, Deutschland wird nie zum Dreistaatenbund heranreifen, in dem sich die Deutsche Föderation und die Deutsche Sozialistische Republik mit Frankoalemannien verbünden gegen die britische Aggression unter Thatcher. Die Titanic wird am Eisberg vorbeifahren, di Caprio wird nie am Bug des Modells stehen und mit seinem "Ich bin der Führer der Welt" die Herzen pubertierender Mädchen erobern. Und all das, weil ich den Geheimrat Goethe ein paar Minuten davon abgehalten habe, sich um die Wegebaukommission zu kümmern, deren Leiter er war (ja, ja, in Wirklichkeit habe ich ihn von etwas anderem abgehalten, es ist das Prinzip, um das es geht). Um zu Beweisen, daß dieses Manuskript authentisch ist, muß ich wohl wissenschaftliche Erkenntnisse bemühen statt vermeintlich historischer (womöglich ist die Zukunft sogar dahingehend verändert, daß mein neues zukünftiges Ich im zwanzigsten Jahrhundert früher oder später in den Zeitrutsch gerät, oder nie - oder vielleicht gar nicht existiert). Ich werde also wohl Hawkings Große Einheitliche Feldtheorie skizzieren müssen. Die kann niemand in diesem Jahrhundert auch nur erahnen, gleich, ob sie in einer veränderten Zukunft nicht von Stephen Hawking stammt, weil sein Radunfall, bei dem er sich zu Tode stürzte, Jahre früher geschah. Aber das hat Zeit bis morgen.

Ich schweife ab.

Das also waren meine beiden Begegnungen mit Johann Wolfgang von Goethe. Beide verliefen nicht sehr fruchtbar. Und beide hinterließen in mir einen unauslöschlichen Eindruck.

Goethe stank.