Achim Stößer

Kolaus, der Wahre

Der Gestank quält sich hoch über der Wasseroberfläche, steigt, oder, da ich kopfüber hänge, sinkt in meine Nase. Wellen klatschen gegen die Schädeldecke, die Haare treiben wie Tang in der Strömung. Die Haare - daran haben die Kahlen nicht gedacht. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, berühren meine sandpapiernen Lippen die Wellenkämme nicht, obwohl sie ganz nah sind. Die Länge des Galgenstricks um meine Fußgelenke ist exakt bemessen. Doch anfangs gelang es mir mehrmals, durch eine blitzschnelle Rumpfbeuge die klatschnassen Haare in mein Gesicht zu schleudern und ein paar Tropfen des schmutzigen Flußwassers aus den Strähnen zu saugen.

Die magentaglänzenden Tannenbaumkugeln der Flußpflaumen auf ihren Blattellern verströmen einen süßen Duft, der auf unbestimmte Weise Erinnerungen an die Brennesselblüten weckt, die ich in meiner Kindheit aussaugte. Ich wünschte, der Altarm wäre noch ruhiger, so daß ein weit modrigerer Gestank des fauligen Wassers den verlockenden Geruch, der durch seine Unerreichbarkeit den Hunger noch zu verstärken scheint, überdecken würde.

Die Waldmenschen auf diesem Mond sind groß und spindeldürr, nur einige Kinder sind kleiner als ich. Die ockerfarbene Haut läßt ihre kahlen Schädel wie Kürbisse wirken. Halloween-Kürbisse, ein Eindruck, der nachts noch verstärkt wird durch ihre restlichtreflektierenden Katzenaugen und die großen, spitzgefeilten Zähne.

Ja, so habe ich mir meinen ersten Kontakt mit einer fremden Zivilisation vorgestellt. Meinen ersten Kontakt, der auch mein letzter sein wird. Die Havarie meines Transporters beim Austritt aus dem Transitknoten war nicht vorherzusehen, Pech, eine Chance von eins zu einer Million. Und so konnte ich sie nicht, wie geplant, vorsichtig telepräsent beobachten, um mich auf sie vorzubereiten, sondern war ihnen nach der Notlandung hilflos ausgeliefert wie ein Neugeborenes.

Zuerst nahmen sie mich freundlich auf, teilten ihren Baumreis mit mir, halfen mir zu überleben.

Doch nach einigen Tagen - Tagen, die hier Wochen dauern - wurde ich Zeuge eines erschreckenden Rituals. Einige Dutzend von ihnen peitschten mit Reisigbesen ihre Rücken bis sie bluteten, ja, bis das Fleisch aufbrach. Es war eine gespenstische Szene, nur beleuchtet von Lagerfeuern und der Albedo des Gasriesen am Horizont, dem dieser Mond wie der unsere der Erde immer die gleiche Seite zuwendet. Alle sangen, nur die Flagellanten blieben lautlos, hieben auf sich ein, bis sie bewußtlos zu Boden sanken.

Die anderen brachten Käfige bei, in denen fauchende Schweinsechsen eingesperrt waren, und Bastkörbe voller toter Haarfische. Den Fischen zogen sie das Fell ab, schlitzten ihnen den Bauch auf, schabten die Organe heraus und zerstampften die Körper zusammen mit kleinen Stücken getrockneter Salzbaumrinde in großen Mörsern. Mit dem Brei stopften sie die Echsen, denen sie Trichter in den Schlund eingeführt hatten. Als die Prozedur beendet war, lagen die Tiere minutenlang apathisch da, dann begannen sie zu zucken, schüttelten sich in Krämpfen und würgten den Brei als schaumige Masse wieder hervor.

Die Käfige wurden beiseitegeschafft, das Erbrochene in einen großen Trog gefüllt. Die Anwesenden, soweit sie bei Bewußtsein waren, zogen daran in einer Prozession vorbei, und jeder aß eine Kelle voll davon.

Dann wurde eine junge Frau in den Kreis der Versammlung geführt, fast noch ein Kind. Sie wagte nicht den Blick zu erheben. Sie stand bewegungslos, nur ihre zwölf langen, knochenlosen Finger öffneten und schlossen sich wie schwimmende Kraken.

Der Priester in seinem blutroten Kapuzenmantel, für den sie Myriaden Purpurmaden zerquetscht haben müssen, verkündete, sie solle aus der Gemeinschaft ausgelöscht werden. Ihr Verbrechen bestand darin, daß sie hungrig gewesen war und ein paar Gebetsnüsse verzehrt hatte.

Die schwarze Tinte, in die sie mich getaucht haben, ist längst getrocknet und beginnt abzubröckeln. Die Farbkruste juckt, ein Jucken, dem ich mit auf den Rücken gefesselten Händen machtlos gegenüber stehe. Gegenüber hänge, vielmehr, und nicht gegen- sondern kopfüber. Selbst wenn ich nicht gefesselt wäre, der grobe Sack, in dem ich bis zum Hals stecke, ist fest verschnürt, so fest, daß ich kaum atmen kann.

Dicht an dicht hocken Quintopusse am Ufer, warten auf meinen Tod. Hin und wieder gleitet einer der fahlgrauen Leiber ins Wasser wie ein Bottich Zement, um irgendwo am Grund der trüben Brühe einen Kadaver zu verschlingen.

Wahrheit kann tödlich sein. Das war mir schon immer klar, ich hätte es nicht am eigenen Leib erfahren müssen.

Ich kann nicht mehr trinken, viel zu ausgelaugt für derlei Akrobatik. Das Mädchen, das an einem zweiten Galgen nicht weit von hier hängt, hat sich seit Stunden nicht mehr gerührt und keinen Laut von sich gegeben. Das Exoskelett ihres Schädels glänzt, tintenschwarz, ihr Gesicht jedoch ist dunkelblau von wimmelnden Aasschrecken. Erstaunlich, daß die Quintopusse sich noch nicht über sie hergemacht haben.

Ein Schwarm Stelzfische nähert sich, wühlt auf der Suche nach Kirschkäfern den Bodenschlamm auf. Es sieht aus, als hingen sie an ihren fadendünnen Stelzbeinen an einem Baldachin aus Plastikfolie. Ein Brausen, ein Klatschen - sechs zappelnde Fischbeine hängen noch sekundenlang aus den schnappenden Kiefern eines Olmhais. Der Rest des Schwarms ist verschwunden.

Das Wasser glättet sich. Nur die blaßrosa Kuppe des Olmhais ragt noch darüber, um das Atemloch an der Luft zu halten.

Langsam wie Treibholz kommt er näher. Dicht vor meinem Gesicht hält er inne, ich spüre die Tröpfchen der an seinem Atemloch platzenden Blasen auf meiner Haut. Der dunkelgrüne Kiemenkranz hinter seinem Kopf zuckt. Er scheint unschlüssig, ob ich eßbar bin.

Adrenalin durchflutet mich. Doch ich bin zu schwach, mich zu rühren. Vielleicht mein Glück, was weiß ich schon über das Verhalten von Olmhaien. Nicht mehr als über das der Waldmenschen. Er schnuppert noch einmal, dann taucht er weg. Offenbar rieche ich nicht wie Nahrung für ihn.

Sie haben mich zum Tod verurteilt, weil ich ihren Gott Kolaus gelästert habe, versucht, ihnen zu erklären, daß dieser Gott, den ihnen vor Generationen der üble Scherz eines Besuchers von der Erde brachte, eines Menschen namens Gunther Buttgereit, nichts weiter ist als ein Märchen, mit dem unfähige Eltern im dunklen Zeitalter ihre Kinder zu dressieren versucht hatten.

Kolaus, den sie den Wahren nennen. Den Wahren, im Gegensatz zu ihren alten Göttern, die Lärm und Licht und Wasser vom Himmel schleuderten, die Jahr für Jahr die Blätter von den Bäumen streiften, die Kinder in ihre Frauen pflanzten. Dem Gott, der wegen einer Verfehlung von den anderen Göttern in Brand gesteckt und an den Himmel verbannt wurde und nun allabendlich versuchte, seinen brennenden Leib im Ozean zu löschen, nur um am nächsten Morgen von den anderen erneut entzündet zu werden. Und dem Gott, der sie über den Rand der Welt aus roten Wirbelsturmaugen anstarrte.

Kolaus, den sie den Wahren nennen, weil er ihrem Leben einen Sinn gab, weil er schied zwischen Gut und Böse. Der für alles was sie taten eine Kerbe in einen mächtigen Steinbaum hieb, in einen goldenen Steinbaum für die guten Taten, für die bösen in einen schwarzen.

Eine Halmwespe ist auf meinem Gesicht gelandet. Ihr schlanker, grüner Leib reicht von meiner Nasenwurzel bis zu ihrer Spitze. Sie tastet mit ihren Mandibeln meine Nasenlöcher ab. Ich puste, doch sie krallt sich fest. Ich muß niesen, mein Körper bäumt sich trotz meiner Schwäche auf, fast betäubender Schmerz durchfährt mich, die Wespe ist verschwunden.

Es kann nicht mehr lang dauern, dann wird der Strom in meinen Neuronen aufhören zu fließen, mein Körper wird zu einem leblosen Fleischklumpen werden, ein Festschmaus für die Quintopushorde. Ich werde aufhören, zu existieren. Meine Augen brennen.

Objektiv betrachtet - und wie anders als objektiv kann ich meinen eigenen Tod betrachten? - hat die Situation etwas ungeheuer Komisches.

Ich sterbe ... ich sterbe, weil die Menschen auf dieser Welt an den Weihnachtsmann glauben.