Achim Stößer

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(Auszug)

Lange Reihen gläserner Kästen wie Särge in einer Familiengruft - das Gewölbe war riesig, die Decke verlor sich im Dunkel der Scheinwerfer. Wenn Carmen nach oben blickte, schienen die Wände, die aufgestapelten Särge, auf sie niederzustürzen. Ihr wurde schwindlig, sie wankte, hielt sich an Khalid fest.

»Was hast du?« fragte er. Die Nasenstöpsel der Maske verliehen seiner Stimme einen verschnupften Klang.

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist ungeheuerlich. Es sind so viele ... so viele.«

Khalid warf einen Blick in jede Richtung entlang des Kreuzgangs. Eines von unzähligen Kreuzgängen zwischen all den Stapeln. Hunderte, Tausende. »Es müssen hundert Millionen sein«, sagte er. »Allein in diesem Gewölbe.«

»Und vielleicht Tausende von Gewölben auf dem ganzen Planeten - Abermilliarden, Billionen Individuen.« Obwohl sie flüsterte, fast ehrfürchtig, hallte ihre Stimme schmutzig und kalt wie in einem Dom. Da sie nie eine Kirche betreten hatte, wirkte der Hall um so irrealer in den gespenstischen Gängen, durch deren Dunkelheit die geisterhaften Lichtfinger ihrer Scheinwerfer tasteten. Nur hin und wieder nahmen sie aus den Augenwinkeln eine unscheinbare Bewegung wahr.

»Individuen?« Khalid schüttelte den Kopf. In jedem der Behältnisse schwamm, wie eine übergroße fahlgraue Walnuß an Drähten und Leitungen, ein Gehirn. »Begreifst du nicht? Sie sind vernetzt.«

***

»Wie die Kreuze von Verdun.« Dido wischte mit einer Handbewegung die Stereoprojektionen vor ihren Augen beiseite, so daß nur noch der leuchtende Gobelin, der mitten im Raum stand, die Aufnahmen, die Khalid in den unterirdischen Gewölben gemacht hatte, wiedergab: Bilder grotesker Marionetten. Doch sie ließ ihren Blick durch das Fenster über die weichen, traumhaft verschwommenen Staubdünen der Planetenoberfläche wandern. Blitze zerplatzten am düsteren Himmel, der mit schwarzen Wolken verhangen war. Sie hatten die provisorische Behausung an einer Küste errichtet. Das Meer bedeckte einen großen Teil der Erdoberfläche. Die schleimige Brühe schwappte hier träge über, leckte ohne Begeisterung am flachen Ufer. Verbissen brüteten die Grünalgen darin vor sich hin, um mit unbelehrbarem Starrsinn von Phytoplankton die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern und planlos den Weg für einen neue Evolution zu ebnen.

»Was meinst du?« Khalid nippte an einer Tasse mit verdünntem Obstdicksaft, dann reichte er sie Carmen, die ihm einen dankbaren Blick zuwarf und in großen Schlucken von der heißen Flüssigkeit trank, gierig, als hätte ihre stundenlange Expedition sie Tage von jeglicher Nahrung abgeschnitten.

»Es hatte einen Krieg gegeben, einen, wie es hieß, schrecklichen Krieg, schrecklich selbst für ihre Verhältnisse.« Dido trat zum Fenster, das Bodengranulat knirschte, ihre Beinstützen surrten leise, und auch ihre Armstütze, als sie die Fingerspitzen der rechten Hand an die Scheibe legte. Sie schauderte, als die Kälte über ihre Haut und durch ihr Glieder kroch, schloß die Lider in ihrem wächsernen Gesicht. Für einen Augenblick sah sie die Erde vor sich, wie sie gewesen war, als sie sie verlassen hatte. Das blaue Meer, das unter einem strahlenden Himmel kraftvoll an gelbe Strände brandete, das gefrorene Feuerwerk der Lichter einer nächtlichen Stadt, feuchtdampfende geheimnisvolle Wälder mit Bäumen, die in den Himmel wuchsen und Pilzen, größer als sie selbst - doch dann wurde ihr schmerzlich klar, daß dies nicht wirklich Erinnerungen waren, Erinnerungen des Kindes, das die Erde gesehen hatte, sondern Wunschbilder: die neue Welt, ihre zukünftige Heimat, wie die Märchen ihrer Eltern sie ausgemalt hatten, und sie öffnete die Augen wieder dem kläglichen Lebensrest draußen vor der Tür. »Sie gruben Löcher in die Erde, damals, und füllten sie mit Toten. Und über jedem Leichnam errichteten sie ein Kreuz, ein Symbol des Todes. Ein Kreuz neben jedem Kreuz, und daneben wieder eins, und wieder, eine Reihe, zwei, drei, Reihe um Reihe, und jedes verdammte Kreuz über einem Menschen.« Sie wandte sich der Projektion zu, die im Raum stand. »Sie haben wieder Gräber gefüllt, diesmal mit lebenden Toten. Nein, es sieht anders aus, ganz anders, die Kreuze schimmerten bleich im flutenden Sonnenlicht auf mechanisch geschorenem Gras einer Monokulturwiese - äußerlich gab es nur strukturelle Ähnlichkeit, doch es fühlt sich an wie ein Déjà vu, wie ein geistiger Klon.« Sie begann auf und ab zu tigern wie ein gefangenes Tier, trat jedesmal durch das Bild, ohne darauf zu achten. Ihre Stützen summten leise.

»Warum setzt du dich nicht?« fragte Khalid. »Du solltest dich nicht so anstrengen.«

»Und du solltest wissen, daß das Laufen für mich keine Anstrengung ist, schließlich gehe ich nicht selbst. Schon lange nicht mehr.« Sie kam auf ihn zu und nahm sein Kinn in die Hand. Da er saß, mußte er zu ihr aufsehen, obwohl sie nicht sehr groß war. »Ich bin vielleicht alt, aber noch nicht tot, ja? Nicht so tot wie dieser verrottete Planet.« Sie ging wieder zum Fenster.

Khalid suchte Carmens Blick, doch diese starrte in ihre Tasse.

Mit fahrigen Bewegungen kam Zinab herein. »Neuigkeiten«, rief sie fröhlich, sah sich um, trat einen Schritt zurück, hob abwehrend die Hände. »Falls es jemanden interessiert«, fügte sie ernüchtert hinzu. »Probleme?«

»Was hetzt du schon wieder durch die Gegend?« fragte Khalid und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Kannst du dich nicht projizieren wie jeder normale Mensch?«

Zinab zeigte ihm die Zunge. »Ich sehe nicht, daß diese eure Konferenz räumlich allzu verteilt ist«, sagte sie und wies auf die Projektion, die die Gewölbe zeigte, aber keine Gesprächspartner. »Bin gleich wieder weg, ich wollte euch nur mitteilen, daß inzwischen alle Gruppen außer der in Persien unterirdische Anlagen gefunden haben, nachdem sie wußten, wonach sie suchen mußten. Wie es aussieht, besteht die Vernetzung weltweit ...« Sie wandte sich zum Gehen. »... bis auf eine isolierte Gehirngruppe im permokarbonen Faltungsbereich -«

»Fichtelgebirge.«

»Exakt.« Und schon war sie durch die Tür.

Khalid sah ihr nach. »Das reinste Elektron«, sagte er.

»Als ich den Fuß von der Erde nahm«, begann Dido zögernd, »gab es noch Bäume und Vögel, nicht viele, und umso mehr Menschen. Die Menschen brachten sich gegenseitig um, sicher, die Wälder wurden abgeholzt und starben durch die Schadstoffe aus Mastbetrieben und Industrieanlagen, die Vögel krepierten an Ölpest und Insektiziden, die Welt war siech, aber immerhin lebte sie. Und jetzt ist sie tot, das einzige, was hier noch vegetiert, sind ein paar Megatonnen Chlorophyceae.«

Khalid wies auf die Projektion. »Und das.«

»Und das, was immer es ist.« Dido klang bitter. »Wenn du es Leben nennen willst.«

»Was sonst? Es ist doch ziemlich eindeutig, was geschehen ist, oder?« Khalid seufzte. »Webstühle, Dampfmaschinen und Handhabungsautomaten nahmen den Menschen die Arbeit ab, sie mußten nicht mehr im Dreck wühlen, um Häuser zu bauen, Gemüse pflücken, um satt zu werden; bereits wenige Jahrzehnte, nachdem der erste Computer ballistische Kalkulationen für Scharen von Rechenmägden übernommen hatte, komponierten seine Nachfolger, steuerten Fahrzeuge, lobotomierten, schrieben Trivialliteratur, noch vor dem, was als Jahrtausendwende gefeiert wurde. Niemand mußte mehr arbeiten, um leben zu können, sondern nur, um sich die Zeit zu vertreiben, die Frei-Zeit zu gestalten, was blieb, war Kreativität, menschenunterstützter Entwurf -«

Carmen warf ihre Tasse an die efeubewachsene Wand. Zwei kleine Heinzel wieselten herbei: ein schildkrötenähnlicher Quader fraß das feuchte Granulat und schied frisches aus; eine Art vierbeiniger, schwanzloser Gecko leckte Pflanzen und Wand sauber.

»Hört auf!« schrie Carmen. »Alle beide!« Sie meinte keineswegs die Heinzel, doch sie sprang auf die Beine und versetzte dem Reiniger auf dem Boden, der die Überreste der zersprungenen der Tasse zusammenklaubte, einen Tritt, so daß die Scherben erneut durch die Luft spritzten. Das Gerät zappelte kurz mit den Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Käfer, rappelte sich dann auf und machte sich ungerührt wieder an die Arbeit. Carmen stieß ihren Zeigefinger gegen Khalids Brustbein. »Begreifst du nicht, daß es hier nicht um eusoziale Wespen oder Nacktmulle oder Siphonophoren geht? Und du, Dido, wenn die Erde so großartig war, warum habt ihr sie dann verlassen?«

Dido sah sie an. »Ich war vier. Ich wollte nicht weg. Ich habe von meinen Eltern ein Hündchen dafür bekommen. Und für sie war es wohl eine Notwendigkeit. Es war nicht großartig. Aber es war besser als - das hier.« Sie verließ den Raum.